Interview mit Klinsmann:"Ich bin hier extrem ergebnisabhängig"

Im Champions-League-Viertelfinale gegen Barcelona geht es auch um die Zukunft von Bayern-Trainer Jürgen Klinsmann. Vor dem Spiel spricht er über einen Kulturkampf beim FC Bayern, die Qualitäten von Franck Ribéry und die Sorge um seinen Job.

Andreas Burkert und Klaus Hoeltzenbein

SZ: Herr Klinsmann, am Sonntagmittag haben Sie eine dreieinhalbminütige Wutrede gehalten mit der Botschaft an eine Mannschaft in Krisentagen: Wer es jetzt nicht kapiert hat, dem droht alles Böse - bis hin zu vertraglichen Konsequenzen. Am Montagmorgen aber waren Sie schon im Frühfunk mit froher Kunde an München zu hören: Ich freue mich auf Barcelona! Sie bleiben ein Extremist.

Interview mit Klinsmann: Hilflos: Jürgen Klinsmann während der 1:5-Niederlage gegen den VfL Wolfsburg.

Hilflos: Jürgen Klinsmann während der 1:5-Niederlage gegen den VfL Wolfsburg.

(Foto: Foto: AP)

Jürgen Klinsmann: Und ein Optimist. Das ist ja das Schöne am Fußball: Du hast immer das nächste Spiel. Und jetzt ist da bei allen von uns die Vorfreude, gegen den FC Barcelona, diese Mannschaft, die in Europa die Maßstäbe setzt, antreten zu dürfen. Mit der Chance, gleich wieder vieles richtigzustellen.

SZ: Was tat dem Trainer mehr weh: dass Wolfsburgs Stürmer Grafite beim 5:1 die ganze Bayern-Abwehr umkurvte und mit der Hacke vollendete - oder dass VfL-Trainer Magath kurz vor Schluss demonstrativ den Torwart auswechselte?

Klinsmann: Am meisten weh tat, dass bei diesem Grafite-Tor, das jetzt vielleicht Tor des Jahres wird, Spieler von uns involviert waren, die absolute Geber sind für diese Mannschaft. Ein Andreas Ottl, der sich für den Klub krummlegt, oder ein Breno, der im Prinzip eine Klassepartie gespielt hatte, bis dieser Rausch der Wolfsburger kam. Und der ein unglaubliches Talent hat. Breno kann eines Tages der Abwehrchef des FC Bayern sein. Dass die beiden mit in den Strudel gerissen wurden, schmerzt am meisten.

SZ: 1:5 in Wolfsburg zu verlieren und nun anzukündigen, am Mittwoch glanzvoll bei Barça auferstehen zu wollen, das ist ein kühnes Unterfangen.

Klinsmann: Ein Trainer lebt hier bei Bayern derzeit in einem Verein der Extreme und in einer Saison der Extreme. ..

SZ: ... und mit extremen Resultaten wie noch nie: 2:5 in der Hinrunde gegen Bremen, 2:4 im Pokal gegen Leverkusen, das 1:5 am Samstag. Im Kontrast dazu steht die Champions League: Der FC Bayern hat, vor dem Anpfiff im Camp Nou, die beste Bilanz aller Viertelfinalisten.

Klinsmann: Darin spiegelt sich, was los ist in diesem Verein. Letztlich stecken wir mitten in einem tiefen Umdenkungsprozess bei den Spielern, die lernen müssen, eine eigene Konstanz zu entwickeln. Vergangene Saison hat das national funktioniert, man wurde Meister und Pokalsieger, hat sich aber blamiert in Europa. Aufs Nationale bezogen gab es hier vielleicht nach dem letztem Jahr eine gewisse Sattheit, auch deshalb gilt die Königsklasse diesmal ja als das Nonplusultra. Nun fehlt aber vielen die mentale Konstanz zu sagen: Die Bundesliga ist unsere Pflicht, die Meisterschaft ist Millionen wert für den Verein, sie ist die Garantie für die Zukunft. Und das auf einen Nenner zu bringen, diesen Balanceakt zu schaffen, in diesem Prozess stecken wir. Mit all den Extremen.

SZ: Aber erklärt das allein ein 1:5?

Klinsmann: Vielleicht etwas. In der Champions League konnten wir doch zeigen, dass die Mannschaft das spielen kann, was wir versucht haben zu verinnerlichen. Das konnte sie aber in einigen nationalen Spielen nicht abrufen - weil der innere Hunger nicht der gleiche war, was aber irgendwo menschlich ist. Ich habe ja früher selbst den Rhythmus mitgemacht. Es sind keine Roboter, sondern Kerle, die jetzt diesen Prozess durchleben, und das mit einem neuen Trainer.

SZ: Verlangt dieser neue Trainer vielleicht grundsätzlich zu viel in einem Verein, der es sich seit Jahren in seiner Größe gemütlich gemacht hat?

Klinsmann: Es ist aber doch ein ganz entscheidendes Jahr für den FC Bayern! Man hat von mir verlangt, dass wir uns in Europa zurückmelden. Die Pflichterwartung ist aber, die nationalen Titel immer so parallel mitzuführen - wohl wissend, dass es ein ganz schwieriges Umdenken geben wird, und zwar in vielen Köpfen hier. Ich orientiere mich ja nicht an meiner eigenen Philosophie, wie das manchmal hingestellt wird: ,Der kommt mit seinem eigenen Kopf und macht, was er will. Nein, ich orientiere mich an dem, was international vorgegeben wird: vom FC Barcelona, von Manchester United, von Liverpool. Mit einer Spielform, die sehr schnell ist, die nur im Kollektiv funktioniert, in das sich der Starspieler eingliedert, mit all den Freiheiten, die ein Cristiano Ronaldo in Manchester oder ein Messi in Barcelona genießt. Das muss ich hier durchbringen.

SZ: Das klingt nach einem Kampf. Kam auch deshalb nach der Wolfsburg-Niederlage Ihr unerwarteter Hilferuf?

"Diese Mannschaft kann's ja"

Klinsmann: Das war kein Hilferuf. Es wurde nur noch mal unterstrichen, was man das ganze Jahr predigt: Es kann nur funktionieren, wenn der Spieler lernt, mit der Verantwortung umzugehen, die ich ihm übergeben habe. Und nicht in einem Ligaspiel gegen Frankfurt 80 oder 90 Prozent zu geben und in einem Champions-League-Spiel, das weltweit übertragen wird, 100 Prozent. Das denkt sich aber der Klinsmann nicht einfach aus - sondern das ist das, was dir international ins Buch diktiert wird. Ich weiß aber sehr wohl, dass wir, wenn wir nicht gleich im Jahr eins die Erfolge erreichen, in Frage gestellt werden.

Interview mit Klinsmann: Ist das noch Zuneigung oder läuft das schon unter Körperverletzung? Uli Hoeneß herzt Jürgen Klinsmann.

Ist das noch Zuneigung oder läuft das schon unter Körperverletzung? Uli Hoeneß herzt Jürgen Klinsmann.

(Foto: Foto: dpa)

SZ: Das nehmen Sie in Kauf?

Klinsmann: Es gibt doch nur diesen Weg, wenn sich der FC Bayern mittel- und langfristig international oben festmauern will! Dann müssen wir die Entwicklung, die international stattfindet, endlich mitgehen. Das sehe ich wie Joachim Löw in der Nationalmannschaft.

SZ: Wäre es nicht besser gewesen, gleich ein Übergangsjahr beim FC Bayern auszurufen? So ein Kulturwechsel dauert doch in der Regel zwei, drei Jahre.

Klinsmann: Die Zeit wird mir nicht gegeben. Hier ist der Maßstab, zum Saisonende eine Schale oder den Pokal in der Hand zu halten.

SZ: Sie stecken in der Ergebnisfalle.

Klinsmann: Für mich ist das keine Falle. Für mich ist das noch mehr Ansporn. Und auch jeder Spieler ist jetzt noch mehr gefordert. Das wird eine reine Kopfsache. Ich werde sehen: Wer ist imstande, sich für die Sache, für den Klub auch wirklich aufzuopfern? Jetzt muss jeder zeigen, ob er internationales Format hat. Das werden spannende sechs Wochen.

SZ: Vor dem Wolfsburg-Spiel hieß es: Der FC Bayern darf gegen dieses Barcelona ruhig verlieren. Nun heißt es eher: Barcelona und am Samstag das Heimspiel gegen Frankfurt - das sind schon die Schlüsselspiele des Trainers Klinsmann.

Klinsmann: Das hatten wir ja gerade schon: Ich bin hier extrem ergebnisabhängig. Aber die Mannschaft kann noch deutscher Meister werden, und wenn es, wie im Jahr 2001, am 34.Spieltag in der 94.Minute durch einen indirekten Freistoß passiert. Diese Mannschaft kann's ja. Sie kann auch in Barcelona bestehen.

SZ: Sie haben plötzlich bewusst die Spieler in die Pflicht genommen. Ein riskanter Schritt für einen Trainer, oder?

Klinsmann: Was in Wolfsburg stattfand, war aber doch nichts anderes als ein Spiegelbild der Gesellschaft, verbunden mit der Frage: Inwieweit versuche ich auch selbständig, Lösungen zu finden? Es ist für die Spieler in ihrem heutigen Umfeld enorm schwer, gegen innere Widerstände anzugehen: Überall nur Loblieder, Schulterklopfer und Berater, die Geld mit ihnen verdienen wollen. Im Englischen sagt man: a fake environment, eine gefälschte, eine künstliche Umwelt. Aber wo wir mit dem FC Bayern hin wollen, müssen wir fähig sein, leiden zu können, zu sagen: Ich muss die Herausforderung annehmen.

SZ: Nehmen wir Franck Ribéry. Während der Woche hatte er Frankreich gerettet, hat die Tore zu zwei 1:0-Siegen gegen Litauen in der WM-Qualifikation erzielt. In Wolfsburg aber war er nicht zu sehen.

"Ich kann nur Überzeugungsarbeit leisten"

Interview mit Klinsmann: "Er hat die Klasse, er hat den Hunger" - Jürgen Klinsmann über Franck Ribéry.

"Er hat die Klasse, er hat den Hunger" - Jürgen Klinsmann über Franck Ribéry.

(Foto: Foto: Getty)

Klinsmann: Weil auch Franck mitten in diesem Prozess steckt. Er hat die Klasse, er hat den Hunger, aber er hat noch nicht die Konstanz dafür...

SZ: ... und er hat Berater, die trotz seines Vertrages bis 2011 ständig neue Wechselgerüchte streuen.

Klinsmann: Dieses Thema überlasse ich Ihnen. Er bleibt nächstes Jahr ganz sicher bei uns, mehr kann und will ich dazu nicht sagen. Nur so viel: Ich habe ihm gesagt, du bist ein Ausnahmespieler, du definierst mit uns das Jahr 2009. Auch für dich: Wo stehst du am Ende in Europas Rangliste?

SZ: Derzeit auf Platz 16 - laut der Wahl zu Europas Fußballer 2008. Er war nicht sehr erfreut über diesen Platz.

Klinsmann: Und mein Wunsch ist es, dass er Ende 2009 unter den Top drei ist.

SZ: Sie sagten, dass Ihnen eine Mannschaft vorschwebe, in der sich der Star ins Kollektiv eingliedert. Sind die Bayern aber nicht das völlige Gegenbeispiel? Sind sie nicht völlig abhängig von Genie und Launen dieses Franck Ribéry?

Klinsmann: Sehe ich nicht so. Wenn ich die Spiele nehme, in denen er fehlte, beim 5:1 gegen Hannover, beim 7:1 gegen Lissabon oder 3:0 gegen Bochum - da hatte die Mannschaft auch eine Identität und Klasse. Dass er noch das gewisse Etwas hat, darauf sind wir trotzdem stolz.

SZ: Trotzdem fehlte in Wolfsburg jede Alternative, als er müde wirkte.

Klinsmann: Ich habe eben eine Mannschaft übernommen, die zu hundert Prozent schon vorhanden war, ohne Forderung nach Neuverpflichtungen ...

SZ: ... bereuen Sie das nicht?

Klinsmann: Nein, ich muss mich ja ein Stück weit verlassen können auf die Strukturen im Klub, ich muss erst einmal die Mannschaft kennen, bevor ich sagen kann, was ich anders haben möchte.

SZ: Der Einzige, den Sie bislang haben wollten, der offiziell als Klinsmann-Kandidat vorgestellt wurde, war US-Stürmer Landon Donovan. Er wurde im Winter einige Wochen getestet - bis das Veto aus der Chefetage kam.

Klinsmann: Es war ja auch nachvollziehbar. Für mich wäre das Wichtigste gewesen, dass wir eine Alternative im Sturm haben, wenn sich jemand verletzt. Es ist doch jetzt alles das passiert, wovor ich Bammel hatte - dass wir mit unseren drei Stürmern sehr knapp dran sind.

SZ: Derzeit sind es zu wenige. Miroslav Klose fällt lange aus, Luca Toni spielt sporadisch mit gereizter Achillessehne, und Lukas Podolski ist außer Form...

Klinsmann: Ich bin aber keiner, der dann klagt. Generell ist es so: Es war in Ordnung, dass ich diesen Kader komplett übernommen habe, weil er viel Potential und Luft nach oben hat. Nur ist da halt dieser Unterschied zum Nationaltrainer. Du kannst frühestens zum Saisonende sagen: Mit uns nicht mehr! Als Nationaltrainer konnte ich früher halt nach wenigen Monaten sagen: Jetzt lade ich den aus und den und den ein.

SZ: Als Nationaltrainer waren Sie 2006 der populärste Deutsche. Nur in München blieb Skepsis. Ausgerechnet dort aber hat es Sie wieder hingezogen, wo Sie als jener Mann bekannt sind, der den Volkshelden Oliver Kahn...

Klinsmann: . . . klar, ich bin von Tag eins empfangen worden als der, der bei der Nationalelf den Sepp (Bundestorwarttrainer Maier; Anm. d. Red.) durch den Andy Köpke ersetzt hat und der den Oliver vor der WM auf die Bank gesetzt hat. Und als derjenige, der damals (1997, am Ende seiner Zeit als Bayern-Stürmer) gesagt hat: Vielleicht passt man nicht zueinander. Jeden Tag ist das kommuniziert worden, in den Medien, beim Bäcker, beim Metzger.

SZ: Aber das wussten Sie vorher.

Klinsmann: Ich weiß es, und ich kann nur Überzeugungsarbeit leisten durch das, was die Mannschaft rüberbringt und durch das, was die Leute hier jeden Tag an der Säbener Straße sehen.

SZ: Nach Wolfsburg und einer kurzen Nacht haben sie den Satz gesagt: "Der Trainer hält hier nicht mehr allein den Kopf hin." Haben Sie das Gefühl, dass beim FC Bayern der Trainer für zu viele Dinge den Kopf hinhalten muss?

"Letztendlich spielt die Mannschaft nur für den FC Bayern"

Interview mit Klinsmann: "In meinem Fall gab es vom ersten Tag an neben Neugier unheimlich viele Fehlinformationen über mich."

"In meinem Fall gab es vom ersten Tag an neben Neugier unheimlich viele Fehlinformationen über mich."

(Foto: Foto: AFP)

Klinsmann: In meinem Fall gab es jedenfalls vom ersten Tag an neben Neugier unheimlich viele Fehlinformationen über mich. Es herrscht eben eine gewisse Grundskepsis und Kritik in Deutschland, wenn jemand anderes kommt und auch noch etwas anderes tut. Erst nach zig Monaten hat sich das gelockert, auch bei vielen, die klubintern Skepsis hatten. Es hieß beispielsweise anfangs, wir würden uns abschotten. Und was ist passiert? Es gab noch nie so viele öffentliche Trainingseinheiten wie jetzt. Und der große Zaun ist weg - früher hat man hier trainiert wie in einem Zoo. Kleinigkeiten, ich weiß, aber anfangs wurde vieles bösartig gestreut. Und deshalb bin ich hier heute sicherlich noch mehr ergebnisabhängig, als ich es ohnehin schon war.

SZ: Welchen Fehler würden Sie denn in einer ersten Bilanz einräumen?

Klinsmann: Das werde ich Ihnen nicht verraten, weil ich den Fehler dann noch in drei Jahren immer in der Zeitung lesen muss. Aber es ist wie bei jedem anderen auch: Wer zehn Dinge am Tag anpackt, der macht auch welche falsch.

SZ: War es vielleicht der Satz: Ich will jeden Spieler jeden Tag ein bisschen besser machen? Er fällt derzeit wieder wie ein Bumerang auf Sie zurück.

Klinsmann: Das ist halt ein Leitfaden, den ich für meine Arbeit habe. In Negativmomenten wird er dir um den Kopf gehauen, aber das ist okay, denn ich glaube, dass jeder Trainer solche Leitfäden haben muss. Um überprüfbar zu bleiben, nicht nur mit Sieg und Niederlage.

SZ: In Wolfsburg hatte man nicht das Gefühl, als kämpfe die Mannschaft für ihren Trainer und sein Projekt.

Klinsmann: Letztendlich spielt sie nur für den FC Bayern. Und für den Weg, sich international wieder dauerhaft oben festzusetzen. Der Verein darf doch jetzt nicht, nur weil es schwierig wird, wieder einen Schritt zurückschauen und nur sehen, wie er nächstes Jahr wieder deutscher Meister wird. Im Moment muss ich halt den Kopf dafür hinhalten und sagen: Ja, auch wir wollen dorthin, wo andere schon sind.

SZ: Klinsmanns Kulturkampf.

Klinsmann: Ob man das hier jetzt als große kulturelle Aufgabe sieht, oder ob man es auf den Fußball beschränkt, bleibt jedem selbst überlassen. Ich weiß nur eines: Der FC Bayern, ob mit oder ohne Klinsmann, definiert sich langfristig an dem, was jetzt gerade hier passiert. In diesem Jahr. Wir haben etwas angestoßen, das ich sehr gerne weiterführen möchte. Für mich und meine Familie war es eine wichtige Entscheidung, aus Kalifornien nach München zu kommen. Wir fühlen uns hier sehr wohl und werden bleiben. Und ich habe noch eine gewaltige Energie in mir, das Ding hier durchzuziehen, beruflich und familiär.

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