Interview mit Hans Meyer:"An den perfekten Fußball habe ich nie geglaubt"

Hans Meyer zählt zu den anerkanntesten Fußballtrainern des Landes. Ein Gespräch über Fußballphilosophien, Führungsspieler und einen Holländer, der in der Kabine Zeitung liest.

Jonas Beckenkamp

sueddeutsche.de: Herr Meyer, lassen Sie uns über den perfekten Fußball sprechen. Glauben Sie nach all den Jahren als Trainer überhaupt noch daran?

Hans Meyer: Ich habe noch nie daran geglaubt. Im Laufe der Jahre gab es allerdings immer wieder Mannschaften, wo du gedacht hast: Geht's besser? Perfektionisten wie Louis van Gaal würden sagen, es geht immer noch besser. Ich erinnere mich an Borussia Mönchengladbach Ende der sechziger Jahre, Anfang der Siebziger, wo du als Fan und Fachmann begeistert warst. Dann gab es diese Mannschaft des AC Milan mit den drei Holländern Rijkaard, Gullit, van Basten Ende der Achtziger, die einen Super-Fußball gespielt haben - und natürlich Barcelona unter Johann Cruyff, bei denen du immer dachtest, die haben drei Mann mehr auf dem Feld.

sueddeutsche.de: Wie lässt sich denn so eine Mannschaft zusammenstellen und entwickeln?

Meyer: So was kommt nicht kometenhaft auf, sondern ist meist Ausdruck jahrelanger Arbeit, weil dafür eine ganze Menge stimmen muss. Glanzvolle Fußballer sind das Allererste, was man braucht. Aber es gab ja auch immer wieder Mannschaften, die hatten Spieler ohne Ende und nichts gelang. Gute Spieler müssen auch zueinander passen. Da gab es zum Beispiel diesen Makelele, der Real Madrid im Zorn verließ, weil man ihn nicht genügend würdigte. Neben ihm spielten Figo und Zidane - als Wasserträger sah er da natürlich viel schlechter aus. Aber der Experte erkennt: Er war unglaublich wichtig für dieses Team. Als er ging, waren Figo und Zidane nur noch 80 Prozent wert.

sueddeutsche.de: Sie sagen, der Experte erkennt das, der gemeine Fan vielleicht nicht. Wie macht sich das bemerkbar?

Meyer: Das ist Erfahrung. Nach einigen Wochen Training sehe ich als Trainer, was Spieler charakterlich draufhaben, wie mannschaftsdienlich sie sind. Ob einer fußballerische Klasse hat, das erkennst du ziemlich bald. Aber wichtiger ist, dass der Spieler den Fußball als Teamsportart begreift, dass er bereit ist, sich einzuordnen.

sueddeutsche.de: Sie haben auch in Holland gearbeitet - wie würden Sie den sogenannten voetbal totaal erklären?

Meyer: Mit diesem Begriff verbindet zum Beispiel Johann Cruyff: Wenn meine Mannschaft auf dem Platz bestimmt, was läuft, wenn sie selbst angreift, kann der Gegner nicht angreifen. Wenn man also offensiv dominant spielt, dann sind selbst viele Gegner wirkungslos. Dazu gehört auch, dass man das Spiel als Spektakel begreift, was natürlich nur mit viel Kreativität geht.

sueddeutsche.de: Wenn das Ihre Idealvorstellung von Fußball ist. Wieso ist es Ihnen, mit Verlaub, nicht gelungen, als Trainer von Nürnberg oder Gladbach so spielen zu lassen?

Meyer: Die Idealvorstellungen von Cruyff sind nur mit entsprechender fußballerischer Klasse zu verwirklichen. Soll ich Ihnen was sagen? Als ich nach Nürnberg kam, war das Team von Wolfgang Wolf gut zusammengestellt, aber man stand mit sechs Punkten ganz unten in der Tabelle. In den nächsten zwei Jahren wurden wir dann Achter, Sechster und Pokalsieger - und machten insgesamt acht Europacupspiele. Das war für die Möglichkeiten dieses Klubs totaler Fußball. Das sehen die meisten der sogenannten Fachleute von außen meist nicht. Den totalen Fußball, den Sie meinen, wird Nürnberg oder Bochum nicht packen.

sueddeutsche.de: Was verstehen Sie unter der vielzitierten "Handschrift" eines Trainers?

Meyer: Ein Trainer muss eine klare Vorstellung haben: Wie will ich spielen und mit welchen Mitteln will ich es auf dem Platz umsetzen? Das richtet sich in erster Linie nach dem Spielermaterial, das ich habe. Wenn ich länger bei einem Klub bin, habe ich die verdammte Pflicht, das Transfergeschehen aktiv mitzugestalten. Und zwar so, dass die Spieler für mein Vorhaben kommen. Das ist leider eher die Ausnahme. Wo haben Sie das noch außer in Bremen oder in Freiburg zu Volker Finkes Zeiten? Ein Trainer kann nicht dauernd wackeln, er darf sich nicht von außen beeinflussen lassen und muss auch mal in schwierigen Zeiten gestützt werden. Von der Presse wird schnell kolportiert: Der ist stur und knüppelhart! Stur? Er ist konsequent! Das gilt übrigens auch in anderen Bereichen des Lebens.

sueddeutsche.de: Wie meinen Sie das?

Meyer: Wenn du Entscheidungen treffen musst, triff sie für dich, nicht für andere. Louis van Gaal ist dafür doch ein phantastisches Beispiel. Er stand von vorneherein im Sperrfeuer: Ein Holländer, der Lucio und Toni aussortierte, dem dann zu Beginn auch noch die Ergebnisse fehlten. Aber die Verantwortlichen der Bayern haben gesehen, dass er ein paar klare Vorstellungen hat. Louis lässt sich eben nicht von Stars wie Ribéry oder Robben auf der Nase rumtanzen, und verzichtet im Fußballspezifischen auf Populismus.

"Van Bommel ist völlig unterschätzt"

sueddeutsche.de: Woran merkt ein Trainer, wie bestimmte Spieler ticken?

Meyer: Ich habe in den Siebzigern bei Feyenoord Rotterdam hospitiert. Die hatten damals den Polen Antoni Brzezanczyk als Trainer. Mein Betreuer sagte mir damals: Wird wahrscheinlich nicht mehr lange gutgehen. Wim van Hanegem, ein Großer des holländischen Fußballs, würde bei seinen Mannschaftssitzungen ganz weit hinten sitzen, die Beine auf dem Tisch haben und Zeitung lesen. Da sage ich: Da muss aber schon zu lange etwas schieflaufen, und es wäre ganz gut, wenn man es ein bischen eher merkt.

sueddeutsche.de: In Deutschland diskutieren wir sehr viel über Führungsspieler - wie erkennt ein Trainer solche Spieler?

Meyer: In jedem Team gibt es Hierarchien. Diese sogenannten Leitwölfe müssen Spieler sein, die individuell schwer anfechtbar sind. Du kannst nicht einfach irgendwen zum Führungsspieler machen, das ist nichts Künstliches. Das ist eine Frage der sportlichen Klasse und der Persönlichkeit.

sueddeutsche.de: Wie haben Sie gemerkt, wer in Ihren Teams der Richtige ist?

Meyer: Das kriegen Sie mit. Wenn wir zusammen auf der Tribüne eine völlig fremde Mannschaft ansehen, dann sage ich Ihnen bei zwei bis drei gehandelten Führungsspielern, dass das keine Leitwölfe sind, obwohl Sie glauben, das wären welche. Sie glauben, dass dieser phantastische Nationalspieler einer ist und der holt sich in einem ganz banalen Moment, beispielsweise in einer Diskussion um einen Einwurf, eine gelbe Karte ab und ist im entscheidenden Spiel seines Teams gesperrt. Und das, obwohl er sich dessen bewusst ist! Dann weiß ich, das ist ein Arschloch und kein Führungsspieler, der sein Team und seinen Klub im Stich läßt. An bestimmten Verhaltensweisen merke ich das: Ob er ständig abwinkt, ob er seine Mitspieler positiv anspricht, ob er sie negiert.

sueddeutsche.de: Bei welchem Spieler haben Sie das besonders festgestellt?

Meyer: Das beste Beispiel ist doch Mark van Bommel. Der ist total unterschätzt. Von der Technik und der Wendigkeit her ist er kein Messi, aber als Teamspieler unglaublich wichtig. Was er bei den Bayern mit Schweinsteiger für eine Rolle spielt, ist eine ganz große Leistung. Er macht seine Mitspieler stärker, weil er auch mal den Mund aufmacht und leistungsfördernd aufs Team einwirkt.

sueddeutsche.de: Welche Bedeutung hat der Faktor Zeit bei der Umsetzung von Konzepten eines Trainers?

Meyer: Eine ganz große. Ich will ja nicht spekulieren, aber nehmen Sie das Beispiel Bayern München: Louis van Gaal startete dort sehr schlecht, die Zeitungen haben dann immer gleich die Statistik bei der Hand, dies sei der schwächste Saisonstart seit 536 Jahren. Stellen Sie sich vor, was passiert wäre, wenn die Bayern in Turin ausgeschieden wären. Vorstände sind ja in der Regel nicht so standfest wie in München. Aber so wie die Öffentlichkeit damals mit van Gaal umgegangen ist, da hätte es gut sein können, dass wir in Deutschland diesen phantastischen Fußball gar nicht mehr zu sehen bekommen hätten.

sueddeutsche.de: Der FC Barcelona wird derzeit wegen seiner Ordnung, seiner Dominanz und seiner Ballstaffetten gefeiert. Ende der neunziger Jahre schimpften viele über den deutschen "Rumpelfußball", der ähnliche Komponenten hatte. Wie passt das zusammen?

Meyer: Über Rumpelfußball müsste man sich mal unterhalten, bei Barcelona sehe ich keine Komponenten von dem, was ich unter Rumpelfußball verstehe. Ich denke, dass auch die Nationalmannschaft ganz wenige Spiele dabei hatte, wo dieses Wort passen würde. Wir hatten immer genügend Klasse, um Fußball zu spielen.

sueddeutsche.de: Bei den Europameisterschaften 2000 und 2004 schied Deutschland jeweils mit unansehnlichem Fußball sang- und klanglos in der Vorrunde aus ...

Meyer: ... aber das waren nur Momentaufnahmen. Andere europäische Klassemannschaften haben gar nicht erst die Qualifikation geschafft. Wenn man den DFB mit seinen Leistungen betrachtet, hat uns das Team nicht nur vom Resultat her, sondern auch spielerisch unheimlich viel Freude gemacht. Dass die Holländer, die übrigens deutlich weniger Erfolge gefeiert haben, mehr fußballerische Leckerbissen einstreuten, hing mit den Bergkamps und Cruyffs dieser Welt zusammen. Wir hatten unter anderem Beckenbauer, dessen Spiel war auch eine ästhetische Augenweide. In Verbindung mit der Nationalmannschaft wird der Begriff "Rumpelfußball" falsch verwendet. Auch wir haben Fußball gespielt, der sehr schön anzusehen war.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: