Interview mit DFB-Trainer-Ausbilder:"Italien spielte mit Abstand am innovativsten"

Er ist einer von Löws wichtigsten Taktik-Experten: Frank Wormuth erklärt im Gespräch, warum die italienische Mannschaft mit Ideen aus der Vergangenheit so überraschen konnte, was es mit der "falschen Neun" der Spanier auf sich hat und warum die DFB-Elf keinen Dortmunder Stil spielen kann.

Thomas Hummel

Frank Wormuth ist Leiter der Fußballlehrer-Ausbildung beim Deutschen Fußball-Bund (DFB) und Trainer der U-20-Nationalmannschaft. Wormuth flog zur EM nach Polen und in die Ukraine im Rahmen einer DFB-Trainer-Beobachtung und sprang zudem für den erkrankten DFB-Cheftaktiker Urs Siegenthaler ein. Ein Gespräch über taktische Trends bei der EM, über die innovativen Italiener, die angeblich stürmerlosen Spanier - und warum die deutsche Mannschaft den Dortmunder Stil nicht verinnerlichen konnte.

EURO 2012 - Frank Wormuth

"Die Italiener leben mit der Taktik":  Frank Wormuth, einer der Chefanalysten im Stab des DFB.

(Foto: dpa)

SZ: Italien hat bei dieser EM die Fußballwelt überrascht. Sie haben teilweise mit Dreier-Kette gespielt und immer mit zwei Stürmern - eigentlich veraltete Varianten, und dennoch waren sie erfolgreich. Wie konnte das passieren?

Frank Wormuth: Tatsächlich waren Antonio Cassano und Mario Balotelli reine Spitzen, die vorne stehen geblieben sind. Klassische zwei Stürmer. Viele Gegner hatten damit Probleme, vor allem deren Vierer-Abwehrketten. Die Innenverteidiger sind es nicht mehr gewohnt, immer Eins-gegen-eins zu stehen.

SZ: Seit Jahren predigen deutsche Trainer von der Bundesliga bis hinab in die Kreisligen, dass bei Ballverlust alle Mann zurück, alle hinter den Ball müssen.

Wormuth: Das ist Ausdruck eines Sicherheitsbedürfnisses. Aber alle Mann hinter den Ball? Das geht sowieso nicht. Mir gefällt dieser Ausdruck auch nicht, mir liegt eher der Ausdruck: alle zum Ball. Aber auch das ist schwierig, immer umzusetzen.

SZ: Es heißt: Wenn nicht alle nach hinten mitrennen, dann steht man zu offen.

Wormuth: Lassen Sie mal im Training zehn gegen sechs spielen, und Sie werden sehen, wie wenig Tore die zehn schießen. Meistens geht das Spiel 0:0 aus. Bei den Italienern haben die acht anderen Feldspieler sehr gut defensiv gearbeitet, das hat gereicht. Aber nach einer gewissen Zeit konnte man auch die beiden italienischen Stürmer an ihrem Mittelfeld aufschließend sehen und damit kamen sie auch der Forderung "alle zum Ball" nach.

SZ: Gegen Spanien im ersten Spiel kamen die Italiener plötzlich mit einem 3-5-2 daher. Noch so ein Relikt aus ganz alten Zeiten.

Wormuth: Weil die Italiener ein paar Dinge aus der Vergangenheit rausgekramt haben, waren sie bei dieser EM mit Abstand am innovativsten. Denn die Dreierkette hat ja hinten mitnichten mit einem Libero gespielt, sondern sich verhalten wie eine Viererkette mit Verschieben und Übergeben. Der Raum, den sie abdecken musste, war natürlich sehr breit, weshalb sich bei starkem Druck des Gegners die beiden äußeren Mittelfeldspieler nach hinten haben fallen lassen. Es wurde eine Fünferkette daraus.

"Spanien hat immer mit Stürmer gespielt"

SZ: Eigentlich hieß es, das 4-2-3-1, das auch Deutschland praktizierte, sei in Stein gemeißelt.

Wormuth: In Italien arbeitete in dieser Saison schon der SSC Neapel gegen den Trend. Die italienische Nationalmannschaft hat hier von Spiel zu Spiel ihre Verhaltensweise geändert. Die zukunftsorientierte Aufgabe wird sein, zwischen den Systemen wechseln zu können, eine taktische Flexibilität zu haben auch während eines Spiels. Mit Wenn-dann-Plänen zu arbeiten, um die Positionen auf dem Feld zu verändern.

SZ: Wie kann eine Nationalmannschaft solche schwierigen Abläufe einstudieren? Vor einem Turnier bleiben da nur drei, vier Wochen.

Wormuth: Die Italiener haben einen Vorteil: Sie leben mit der Taktik, das Land ist schon immer die Taktiknation gewesen. Es ist für sie normal, zwei bis drei Stunden auf dem Trainingsplatz zu stehen, ohne zu schwitzen. Deshalb können die Italiener solche Dinge in der Vorbereitung schneller verinnerlichen als andere Nationen. Giovanni Trapattoni hat das beim VfB Stuttgart eingeführt, das hat den Stuttgartern laut meinen Informationen überhaupt nicht gefallen.

SZ: Auch die Spanier gaben Anlass zu Diskussionen: Sie spielten angeblich ohne Stürmer. Sahen Sie das auch so?

Wormuth: Natürlich nicht. Auch wenn Vicente del Bosque von der "falschen Neun" spricht, kann ich da nicht zustimmen. Sie haben mit Stürmer gespielt, nur in einer sehr flexiblen Auslegung. Auch wenn Cesc Fàbregas nominell ein Mittelfeldspieler ist, stand er auf der Stürmerposition. Und selbst wenn er auswich, sollten David Silva oder Andrés Iniesta in den offenen Raum zentral vor dem Tor laufen und die Position besetzen.

SZ: Dennoch hatten sie Probleme, sich Torchancen zu erspielen.

Wormuth: Ich finde, die Spanier haben ihren Stil in diesem Jahr ein wenig übertrieben. Es gab Situationen, in denen bekam Fàbregas den Ball in guter Position zum Tor und hat ihn dennoch aus Gewohnheit nach hinten prallen lassen. In gewissen Szenen hatten sie auch tatsächlich niemanden, der die Stürmerposition besetzte, weil die Spieler nicht mehr so bewegungsfreudig waren. Auch ihr Tiki-taka haben sie nicht so konsequent durchgezogen wie früher. Als die Zuschauer pfiffen, kam plötzlich der Risikopass nach vorne.

SZ: Die Spanier sind von ihrem Erfolgsrezept abgewichen?

Wormuth: Vielleicht waren sie überspielt, sie wirkten müde. Und sie sind ja auch nicht mehr die jüngsten. Dennoch sind sie selbst bei 95 Prozent immer noch überragend im Vergleich zu anderen. Wir waren halt verwöhnt von ihrem Spiel.

SZ: Vielleicht verteidigen die Gegner auch immer besser. Vor allem der FC Chelsea hatte damit großen Erfolg, und nun standen auch einige Mannschaften bei der EM extrem hinten drin.

Wormuth: Chelsea war ein Sonderfall. Sie haben sich gegen Barcelona oder gegen Bayern an den eigenen Strafraum gestellt und gewartet. Das machen aber nur Mannschaften, die wissen, dass sie schwächer sind. Bei der EM etwa die Griechen gegen Deutschland oder die Iren gegen Spanien.

"Mario Gomez spielt beim FC Bayern einen ganz anderen Fußball"

SZ: Es fiel auf, dass zwar alle Spieler hinten drinstehen, aber keiner mehr in einen Zweikampf geht. Das gute alte Zeichensetzen durch beherztes Einsteigen scheint völlig passé zu sein.

Wormuth: Nehmen wir Chelsea gegen Barcelona. Da wussten die Spieler: Wir sind hölzern, die sind filigran; wenn wir rangehen, gibt es immer ein Foul, oder wir werden ausgespielt. Das setzte sich bei der EM fort. Weil alle Nationalmannschaften gut Fußball spielen können, führte das übliche Pressing kaum mehr zum Ballgewinn. Die verteidigende Mannschaft versuchte, den Raum enger zu machen, ging ballorientiert immer weiter nach hinten und plötzlich standen alle um den Strafraum herum.

SZ: Vor kurzem nannte man das noch Handballisierung des Fußballs. Jetzt geht es fast ins körperlose Basketball.

Wormuth: Stimmt, es gibt Anleihen daraus. Man will einfach nicht das Foul provozieren, ein Foul hebt das alles auf, es gibt Freistoß und eine gute Chance. Vorher muss der Gegner da spielerisch durchkommen. Ich glaube, erstmals seit langem sind mehr Tore aus Flanken entstanden als aus Kombinationen in den Sechzehner. Oder man wählt den Fernschuss als letztes Mittel. Aber auch da haben sich zum Beispiel die Griechen reingeworfen und der Schuss muss erst mal durchkommen. Das ist nicht einfach für die angreifende Mannschaft.

SZ: Die deutsche Elf tat sich ziemlich schwer in der Offensive.

Wormuth: In gewissem Sinne ist sie selbst schuld daran, weil sie spielerisch so gut ist. Bei der WM in Südafrika konnten wir super kontern, jetzt nehmen uns alle ernst, stellen sich hinten rein. Jetzt müssen wir mit Kombinationsspiel nach vorne kommen. Das ist eine ganz andere Situation.

SZ: Viele haben den Dortmunder Hochgeschwindigkeits-Fußball vermisst. Ist der in der Nationalmannschaft überhaupt möglich?

Wormuth: Es stimmt, die Mannschaft hat eher gespielt wie der FC Bayern: mit geduldigem Passspiel, auf der Suche nach den Schnittstellen in der Abwehr oder einem Passfenster, das sich auftut. Dabei würde das Trainerteam gerne mehr wie Dortmund spielen, aber es gibt dazu nicht viele Möglichkeiten.

SZ: Wieso nicht?

Wormuth: Dortmund kommt ja über das schnelle Umschalten nach Ballgewinn. Bevor der Gegner dazu kommt, in die Verteidigung zurückzulaufen, ist Dortmund schon in Aktion. Das hat mit der Nationalmannschaft nicht so gut geklappt, weil der Gegner trotz eigener Offensive immer mit sechs Mann hinter dem Ball stand. Außerdem braucht man vorne dazu einen Stürmer, der den ersten Pass festhält und verteilt, wie es Didier Drogba beherrscht. Mario Gomez hatte da seine Schwierigkeiten, aber er spielt beim FC Bayern auch einen ganz anderen Fußball. Es geht gar nicht, dass er sich in der Kürze der Zeit so extrem umstellen kann. Außerdem hat er andere Qualitäten. Er schießt Tore und mit Verlaub, dass ist am Ende das Salz in der Suppe.

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