Internationaler Fußball:Videobeweis eingeführt

Im australischen Fußball werden nachträglich Tatsachenentscheidungen der Schiedsrichter korrigiert. Durch den Präzedenzfall könnte sich eine Zeitenwende anbahnen.

Boris Herrmann

Fußballhistorisch ist es auf den ersten Blick nebensächlich, ob Perth Glory gegen Melbourne Heart in der australischen Liga 1:2 oder 2:2 spielt. Auf den zweiten Blick ist diese Begegnung, die am 29. August stattfand, aber doch ganz interessant. Perth hat kurz vor Schluss per Strafstoß ausgeglichen, der nach einer allzu offensichtlichen Schwalbe eines Angreifers mit dem phonetisch verdächtigen Vogelnamen Michael Baird verhängt worden war. Wenn man nun sogar noch einen dritten Blick riskiert, dann ist man geneigt zu sagen, dass dieses Spiel den Weltverband Fifa und sein Regelwerk in seinen Grundfesten erschüttern könnte. Nach Auswertung der Fernsehbilder wurde Michael Baird nämlich vom australischen Verband FFA für zwei Spiele gesperrt. Man kann auch sagen, er wurde per Videobeweis überführt. Da war doch was.

Sepp Blatter

Sepp Blatter, Fifa-Boss und Anhänger eines fußballromantischen Leitmotivs.

(Foto: AP)

Wer die Zeit der Fußball-WM in Südafrika nicht gerade in einer gut verschlossenen Tonne zugebracht hat, der muss bei dem Wort Videobeweis hellhörig werden. Getroffen wird hier sozusagen die wunde Stelle des allmächtigen Weltverbandes. Es war schon fast herzzerreißend, wie Fifa-Boss Joseph Blatter auch nach den absurdesten Fehlentscheidungen von Südafrika immer wieder das fußballromantische Leitmotiv bemüht hat, wonach dieses Spiel nun einmal von seinen Unzulänglichkeiten lebe. Die Verwendung zeitgemäßer technischer respektive bildbasierter Hilfsmittel gilt bislang im Fifaland als Straftatbestand. Der Schiedsrichter, so will es die Blattersche Grundregel, ist ein Blinder unter Sehenden. Der Fall des Baird am anderen Ende der Welt wirft nun ein ganz neues Licht auf die Angelegenheit. Möglicherweise bahnt sich hier nicht weniger als eine Zeitenwende an.

Experten-Urteil am Fernseher

Dass die FFA bei ihrer Videobeweis-Sperre nicht aus einer Laune heraus gehandelt hat, zeigt schon die Tatsache, dass sie ein vor einiger Zeit ein sogenanntes "Match Review Panel" ins Leben gerufen hat, dem unter anderem der frühere Schiedsrichter Simon Micallef und der ehemalige Nationalspieler Alan Davidson angehören. FFA-Boss Ben Buckley hat das Arbeitsfeld seiner Video-Richter in einer Verbandsmitteilung so umrissen: "Das Match Review Panel besteht aus unabhängigen und sehr erfahrenen Experten. Sie haben den Vorteil, die Fernsehbilder aus zahlreichen Kamerablickwinkeln auswerten zu können. Und sie haben den Luxus, dass sie Zeit haben - ganz im Gegensatz zum Schiedsrichter, der im unmittelbaren Spielkontext entscheiden muss."

Die Herren vom Review Panel sind offenbar fest entschlossen, diesen Luxus auch umfassend auszuleben. Neben Baird haben sie vergangene Woche auch den argentinischen Mittelfeldspieler Patricio Perez vom Erstligisten Central Coast nachträglich für eine Schwalbe suspendiert. Sydneys Torhüter Liam Reddy, der Perez der Tatsachenentscheidung des Schiedsrichters zufolge von den Beinen geholt haben soll, wurde derweil nach Sichtung der Fernsehbilder von seiner roten Karte freigesprochen.

Die Frage ist nun, ob die Australier Pioniere einer Entwicklung sind, die von einem Umdenken im Büro Blatter zeugt und Auswirkungen auf den Spielbetrieb weltweit hätte. Oder ob Down Under schlichtweg eigene Gesetze gelten. Der Weltverband in Zürich teilte dazu auf SZ-Anfrage mit: "Es ist nicht korrekt, dass die Fifa den Einsatz von technischen Hilfsmitteln erlaubt hätte, um Spieler nachträglich zu sperren, die sich des Simulierens schuldig gemacht haben." Weiterhin wird auf Artikel 77 des Fifa-Strafenkatalogs verwiesen. Dort heißt es: "Das Fifa-Schiedsgericht ist verantwortlich für ernsthafte Rechtsverletzungen, die den Match-Offiziellen entgangen sind." Als ernsthafte Rechtsverletzung gilt laut eines Fifa-Sprechers "zum Beispiel gewalttätiges Benehmen, nicht aber Simulieren". So gesehen steht die australische Vorgehensweise also keineswegs im Einklang mit dem internationalen Regelwerk, wird aber offensichtlich stillschweigend geduldet.

Bairds Vogelflug weckt vor diesem Hintergrund nicht nur unter zoologischen Aspekten Erinnerungen an Andreas Möller. Der damalige Dortmunder wurde 1995 - in einer Zeit, als der Videobeweis noch kein Reizthema war - für seine denkwürdige Schwalbe gegen Karlsruhe zwei Wochen lang gesperrt. Und schon die Urteilsbegründung von damals war in ihrer Widersprüchlichkeit kaum zu überbieten: "Der Schiedsrichter hat nichts gesehen, deshalb war Raum für eine Anklage", so das DFB-Sportgericht. Was damals wie heute niemand erklären kann, ist, wie ein Schiedsrichter gleichzeitig nichts und doch ein elfmeterwürdiges Foul gesehen haben kann.

Der DFB-Schiedsrichter-Lehrwart Lutz Wagner findet den Fall Baird daher hochbrisant: "Das ist nicht ohne, damit wird die Tatsachenentscheidung, die bei der Fifa eigentlich heilig ist, ganz klar angegriffen." Und er ergänzt: "Wenn, dann müssen wir das grundlegend machen. Dann muss man für Schwalben auch auf dem Platz Rot geben dürfen."

Damit verweist Wagner auf einen weiteren absurden Aspekt der australischen Praxis. Schiedsrichter dürfen auf dem Platz lediglich die gelbe Karte zücken, wenn sie einen Profi beim selbst eingeleiteten Sinkflug erwischen. Wenn die nationalen Sportgerichte nun aber ohne Intervention der Fifa Spielsperren für Schauspielerei verhängen können, dann bedeutet das letztlich, dass die Juristen Regeln anwenden, die es für Schiedsrichter eigentlich gar nicht gibt. Lutz Wagner sagt: "Ich bin sehr gespannt, ob das Vorbildfunktion für andere Verbände hat."

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