HSV erkämpft sich 1:1:"Vielleicht war das der Beginn einer Renaissance"

Gelsenkirchen 13 05 2017 Torjubel Pierre Michel Lasogga Filip Kostic und Torwart Christian Mathen

Hamburger Befreiungsschlag: Filip Kostic (l.) und Torwart Christian Mathenia feiern Pierre-Michel Lasogga (r.) für dessen spätes Tor zum 1:1 gegen Schalke.

(Foto: Moritz Müller/imago)
  • Dank eines Tores in der Nachspieltzeit von Pierre-Michel Lasogga bekommt der HSV ein Abstiegsendspiel gegen den VfL Wolfsburg.
  • Aufgrund der besseren zweiten Halbzeit ist der Punkt nicht unverdient.
  • Der FC Schalke 04 ärgert sich zwar, verabschiedet aber kurz nach dem Spiel mit wehmütigen Gefühlen verdiente Spieler.

Von Philipp Selldorf, Gelsenkirchen

So viel Festtagsstimmung herrschte vor dem Anpfiff auf Schalke, dass es geradezu als Zumutung für die einheimischen Zuschauer erschien, danach noch ein anstrengendes Fußballspiel sehen zu müssen. Die überaus farbigen Feierlichkeiten fanden in allen Winkeln der Arena statt und nahmen eine knappe halbe Stunde in Anspruch. Während auf dem Rasen die scheidenden Profis Holger Badstuber, Timon Wellenreuther, Dennis Aogo und Sascha Riether mit riesigen Blumensträußen und freundlichen Worten von Klubchef Clemens Tönnies verabschiedet wurden, entfalteten die Fans monumentale Wandbilder auf den Tribünen, um an den 20. Jahrestag des Uefa-Cup-Sieges zu erinnern. Leibhaftige Eurofighter, inklusive des unglaublichen Yves Eigenrauch, nahmen im Innenraum die Parade ab. Derweil grüßte von der Videowand der ebenfalls scheidende Torjäger Klaas-Jan Huntelaar und forderte die Gäste auf, nach dem Spiel mit ihm das Ende von sieben gemeinsamen Jahren zu feiern. Bis dahin hatte er aber noch einen Job zu erledigen, denn er gehörte der Schalker Startelf im Spiel gegen den Hamburger SV an.

Das stand an diesem Samstagnachmittag ja auch noch an: die Fortsetzung des scheinbar immerwährenden Abstiegskampfs des letzten verbliebenen Gründungsmitglieds der Bundesliga. Die Hamburger Spieler zeigten einen starken Willen, diesen einmaligen Status zu wahren, man konnte sogar von einem großen Kampf sprechen, und der wurde in den allerletzten Minuten gleich doppelt belohnt. Erst glich der eingewechselte Pierre-Michel Lasogga in der Nachspielzeit die Schalker Führung aus (Burgstaller, 25. Minute), dann kam den Hamburgern der Linienrichter zur Hilfe: Das vermeintliche 2:1, das Sead Kolasinac nach einem Eckstoß mit dem Kopf erzielte, von Trainer Weinzierl mit einem Sprint auf den Platz gefeiert, nahm Referee Thorsten Schiffner aus der Wertung. Er meinte, die Hereingabe von Geis sei durchs Aus geflogen.

Hamburg kann den Klassenverbleib im Nordduell gegen Wolfsburg sichern

Turbulente Szenen spielten sich daraufhin ab, wütende Schalker bestürmten den Aufseher, Weinzierl schien entschlossen zu sein, am Offiziellen Rache zu nehmen (wovon er dankenswerterweise absah), und die Hamburger wussten nicht, ob sie ihrem Glück trauen durften. Dann fielen sich alle um den Hals. Dieses mit harter Arbeit verdiente 1:1 in Gelsenkirchen hatte das Unheil gerade noch abgewendet, denn der Punkt kann Gold wert sein: Am finalen Spieltag können die Hamburger im Heimspiel gegen den Tabellennachbarn VfL Wolfsburg den Klassenverbleib sichern. Trainer Markus Gisdol hielt es mit Recht für angebracht, seinem Team angesichts der psychischen Belastung Komplimente zu machen: "Wir sind nie kopflos geworden und haben in der zweiten Hälfte immer mehr Druck aufgebaut", lobte er, "das sind emotionale Momente, die man so schnell nicht vergisst. Doch wir wissen, dass das jetzt nur der erste Schritt war. Am nächsten Samstag müssen wir den Sack zumachen."

Und Lasogga? Der Stürmer, der in der Rückrunde nie über 90 Minuten und überhaupt nur einmal eine Halbzeit lang gespielt hat (ausgerechnet beim 0:4 gegen Augsburg) gab sich demütig. "Ich bin sehr glücklich. Es tut gut, der Mannschaft so zu helfen. Mir ist eine Last von den Schultern gefallen", sagte der 25-Jährige, der nach vielen Verletzungsproblemen auf der Suche nach der alten Form seinen Stammplatz an Bobby Wood verloren hatte. "Ich hatte kein einfaches Jahr, habe viel zurückgesteckt. Aber bei jedem Einsatz habe ich gespürt, dass die Fans hinter mir stehen. Da wollte ich etwas zurückgeben." Und er verlor nie den Glauben an die eigene Stärke: "Wenn man immer Gas gibt, kommt der Tag, an dem man belohnt wird."

HSV-Boss Heribert Bruchhagen war nach dem Spiel sichtlich erschöpft: "Der Begriff 'Wechselbad der Gefühle' reicht für sowas nicht aus. Jetzt wollen wir den direkten Klassenerhalt - und dieses Spiel macht Hoffnung." Er erkannte im Tor von Lasogga sogar die Zeichen einer Zeitenwende: "Vielleicht war das der Beginn einer Renaissance."

"Jeder hat heute gesehen, dass wir uns voll reingehauen haben"

Schalkes Trainer Markus Weinzierl ärgerte sich über die verlorenen Punkte, die seinem Klub die letzte Hoffnung nahmen, womöglich doch noch über den Umweg des siebten Tabellenplatzes Zugang zum Europacup zu finden. "Wir haben in der zweiten Halbzeit zu wenig investiert beziehungsweise zu wenig Entlastung hergestellt", kritisierte er und klagte über den Entscheid des Linienrichters, den er als "gewagt" bezeichnete. Gisdol berichtete, dass ihm die dramatischen Schlussmomente keinen Schrecken mehr einjagten: "Ich hatte das Glück, dass ich zum Linienrichter geschaut und gesehen habe, dass er die Fahne gehoben hat. Deswegen war der Puls nicht auf 480", sagte er.

Bis zur Pause sahen die Hamburger allerdings nicht wie Widerstandskämpfer aus, sondern wie eine Mannschaft, deren spielerische Grenzen im prekären Tabellenrang den passenden Ausdruck finden. Zwar setzten die HSV-Profis die Schalker effektvoll unter Druck, so dass der Spielfluss auf enge und engste Räume begrenzt wurde, aber nach einer Weile eroberten die Gastgeber dank der technischen Qualitäten der Mittelfeldspieler Nabil Bentaleb und Leon Goretzka Freiräume. Eine hübsche Kombination auf dem linken Flügel schloss Bentaleb mit einer scharf geschnittenen Flanke ab, die Burgstaller per Kopf in die ferne Torecke verlängerte.

Der HSV spielt erst im zweiten Durchgang stark

Die Hamburger forcierten nach der Pause die Jagd auf den Ausgleich. Diese trug allerdings mitunter tragikomische Züge. Zwar schaffte es der HSV, den Schalkern die spielerische Hoheit zu entwenden, doch vor dem Tor endete die Hamburger Kunst; selbst Könner wie Linksaußen Kostic reihten einen Fehlpass an den nächsten, wenn es darum ging, in den Strafraum zu gelangen.

Weinzierl nahm später Huntelaar vom Platz, um den knappen Vorsprung zu verteidigen, doch in der 93. Minute passierte es dann. Im Schalker Strafraum herrschte Chaos, und Lasogga stand richtig, um Holtbys Zuspiel zu nutzen. So avancierte der Angreifer eher unverhofft zum Retter. "Jeder hat heute gesehen, dass wir uns voll reingehauen haben - das müssen wir nächsten Samstag wiederholen."

Für die Schalker war es am Ende ein sportlich missratener Festtag. Aber dann wurde eine Bühne aufgebaut, auf der Huntelaar den Getreuen rührselig Adieu sagte - und alle waren viel zu sehr mit ihren wehmütigen Gefühlen beschäftigt, als dass sie sich noch über ein banales Unentschieden aufregen wollten.

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