Holland nach der EM-Auftaktpleite:Verkatert im falschen Film

Dänemark feiert seine kleinen Helden, die Niederländer fürchten das Endspiel gegen Deutschland: Nach der ersten Überraschung der EM herrscht in beiden Lagern höchst unterschiedliche Stimmung. Das Spiel von Oranje offenbart, dass die vielen Offensivkönner nicht zueinander finden - Arjen Robben sieht sogar die Egoismus-Debatte aus München als Grund für die Niederlage.

Jonas Beckenkamp

Ginge es nach der Farbgebung auf den Rängen des Stadions in Charkow, wäre die Sache klar gewesen. Alles fest in holländischer Hand - zumindest hier dominierte Oranje. Doch zu hören war wenig von den Fans aus den Niederlanden. Erst recht nicht, als nach 30 gespielten Minuten zwischen Holland und Dänemark plötzlich die wenigen Hundert dänischen Schlachtenbummler einen ihrer Klassiker intonierten. "Vi er Röde, vi er Hvide" besangen sie stimmgewaltig die Landesfarben: Rot und Weiß.

Netherlands vs Denmark

Arjen Robben vergab gegen die Dänen einige gute Gelegenheiten - dass er nicht traf, könnte aus seiner Sicht auch an der Debatte um seine Spielweise liegen.

(Foto: dpa)

Eingeweihte, also hauptsächlich Dänen, wissen, dass das Lied aus glänzenden Zeiten des kleinen Fußballlandes stammt. Der dänische WM-Kader von 1986 trällerte es einst als offiziellen Turnier-Soundtrack. Das 1:0 (1:0) der Dänen gegen die Niederlande, die erste handfeste Überraschung des laufenden EM-Turniers, weckte bei den Skandinaviern unvermittelt Erinnerungen an glorreiche Tage des dänischen "Fodbold".

1986 war die Geburtsstunde von "Danish Dynamite", einer Hochphase, die ihren Höhepunkt mit dem EM-Titel 1992 erreichen sollte. Solches Schwelgen war jetzt in der Ukraine erlaubt, schließlich hatte das winzige Dänemark das fußballerisch so riesige Holland durch ein feines Einzelkönner-Tor von Michael Krohn-Dehli (24. Minute) besiegt.

Die Dänen waren gerannt, als gäbe es Bonuspunkte für Kilometer, doch sie hatten auch spielerisch mitgehalten mit einem der großen Turnierfavoriten. Schließlich gewannen sie nicht unverdient die Partie gegen völlig frustrierte Oranje-Kicker. "Es fühlt sich an, als wäre ich in einem schlechten Film gelandet. Auch in diesem Spiel kriegst du die besten Chancen, vielleicht noch ein wenig extremer als gegen Chelsea, und gewinnst wieder nicht", sagte Bayern-Stürmer Arjen Robben. Chelsea. Das scheint Robben immer noch zu bewegen. Doch er war nicht der einzige, der versagte.

Arsenal-Angreifer Robin van Persie, dem Coach Bert van Marwijk im Sturmzentrum anstelle von Schalkes Bundesliga-Torschützenkönig Klaas-Jan Huntelaar vertraut hatte, agierte zwar bemüht, aber irgendwie unglücklich. Gleich mehrfach platschten dem besten Torjäger der englischen Premier League auf groteske Weise die Bälle vom Fuß - seine vergebenen Chancen schmerzten die "Elftal" am Ende sehr. Dass Huntelaar als Einwechselspieler später ebenfalls aussichtsreich an Dänemarks Keeper Stephan Andersen scheiterte, machte die Offensivmisere nur noch schlimmer.

"Wir waren sehr entschlossen und besser als unser Gegner, aber man muss natürlich auch das Tor machen", sagte der enttäuschte van Marwijk. Was die Niederländer an diesem für sie schwarzen Tag zeigten, erinnerte frappierend an eines ihrer längst vergessenen Grundprobleme: Diese Mannschaft kann eigentlich alles, aber sie findet vor allem im Angriffsspiel nicht zueinander.

So sah sich keiner der beiden Außenverteidiger Jetro Willems und Gregory van der Wiel dazu genötigt, die Offensiven Robben und Ibrahim Afellay mit Vorstößen von hinten zu unterstützen. Und die vorne Alleingelassenen leisteten sich dazu unerklärliche Unkonzentriertheiten, was dazu führte, dass sich die Akteure auf dem Feld gleich mehrfach anmaulten oder beleidigt abwinkten.

Kaum Einsicht

Einsichtig über ihre zwar chancenreiche, aber doch recht zerfahrene Partie zeigten sich die Niederländer aber nur bedingt. "Es ist unglaublich, dass wir dieses Spiel verlieren. Wir haben sehr viele Chancen gehabt und nur eine zugelassen. Ich gewinne lieber und spiele schlecht", so Kapitän Mark van Bommel, der das Mittelfeld nicht zu ordnen wusste. Selbst als sich gegen Ende des Spiels mit van Persie, Huntelaar, Robben, Wesley Sneijder, Rafael van der Vaart und Dirk Kuijt gleich sechs namhafte Offensivgrößen aus den besten europäischen Klubs versuchten, blieb der Ertrag gleich Null.

Möglichkeiten versiebte neben van Persie aber vor allem Robben, der nach dem Schlusspfiff sichtlich genervt wirkte. Der flinke Linksfuß suchte nach Erklärungen für das Offensivversagen und kam zu einem interessanten Schluss: "Vielleicht war es die ganze Scheiße," mutmaßte der Münchner. Gemeint war die monatelange Egoismus-Debatte um seine Person bei den Bayern.

In einer seiner besten Szenen hatte der ehrgeizige Dribbler im Strafraum nicht den Abschluss gesucht und stattdessen einen erfolglosen Pass gespielt. Dabei habe er, so die Auskunft, die Vorwürfe über seine eigensinnige Spielweise im Hinterkopf gehabt - als er es dann doch selbst probierte, zirkelte Robben den Ball nach einem Fehler des dänischen Keepers an den Pfosten (36.).

Dass die Zeitung Algemeen Dagblad tags darauf die eigentlich recht sanfte Stimmungsmache der Bild ("Robben bringt Oranje Bayern-Pech") extra erwähnte, zeigt: In dem flachen Nachbarland ist man deutlich genervt. Pech, Egoismus und mangelnder Teamgeist - mit solchen Unzulänglichkeiten haben sich die Niederländer schon um so manchen Erfolg im Fußball gebracht.

Wie es jetzt weiter geht mit dieser ratlosen holländischen Mannschaft, wird ausgerechnet die schwierige Partie gegen den Nachbarn aus Deutschland zeigen. Die muss Oranje gewinnen, soviel steht fest. "Ich weigere mich, schon von einem Ausscheiden zu sprechen. Es macht keinen Sinn, jetzt negativ zu denken", betonte van Marwijk. "Das wird kein leichtes Spiel. Aber unsere Aufgabe ist nun, Deutschland zu schlagen. Das weiß jeder Spieler", so der Trainer weiter. Dieses höchst unangenehme Szenario wollten die Oranje-Männer natürlich unbedingt vermeiden - doch jetzt herrscht in dem Land ein "Kater von Format", wie das Blatt Het Laatste Nieuws aus dem Nachbarland Belgien erfühlte.

Während die Dänen also ihren Überraschungsschlag feiern, regiert in Holland der Blues. Da passt es ins Bild, dass in der Nacht auch noch die Heimreise ins Teamhotel in Krakau schief ging. Die Mannschaft musste am Samstagabend länger in Charkow bleiben als geplant. Aufgrund der Notlandung einer anderen Maschine verzögerte sich der Abflug der Holländer um eine Stunde. Oranje hat wahrlich schon bessere Tage gesehen.

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