Hoffenheim vor dem Spitzenspiel:Ich lenke, also bin ich

In Hoffenheim hat Trainer Rangnick nach langer Suche sein Milieu gefunden. Sogar das Establishment beklatscht ihn.

Moritz Kielbassa

Anglophil war Ralf Rangnick schon als Kind. Er las gerne Detektivgeschichten von Sherlock Holmes, und sein liebstes Schulfach war Englisch. Als junger, maßvoll talentierter Fußballer spielte er auch mal in England (FC Southwick), heute orientiert sich der Trainer Rangnick an der Methodik vom FC Arsenal aus London. So hatte er am Mittwoch auch keine Mühe, einem Reporter der britischen BBC das Märchen Hoffenheim zu erläutern.

Hoffenheim vor dem Spitzenspiel: Ralf Rangnick hat sein richtiges Milieu gefunden.

Ralf Rangnick hat sein richtiges Milieu gefunden.

(Foto: Foto: AP)

Vor dem Bundesliga-Gipfel bei Bayern München wurde das badische Dorf von internationalen Medien belagert wie noch nie. Rangnick sprach auf dem Podium von "big headlines", großen Schlagzeilen, und gestiegenen Zuschauerzahlen ("increased dramatically"). Aber halt, wiegelte er ab, an die Hymne der Champions League, an Manchester oder Chelsea, denke in Hoffenheim noch niemand: "It's a long way to go."

Einen langen Weg, steil den Hang hinauf, hat Rangnick mit Hoffenheim bereits hinter sich. Als er seinen Weg im Tal begann, im Sommer 2006, hieß der Auswärtsgegner schon einmal FC Bayern. Es war die Regionalliga-Reserve der Münchner, und auf den fast leeren Rängen blies ein Fan mit Trompete unentwegt dieselbe Melodie. Rangnick dachte: "Wenn ich mir das auch nächstes Jahr anhören muss, drehe ich durch."

Zwei Schritte zurück fürs richtige Milieu

Nur zwei Spielzeiten später malt seine Elf auf den Grünflächen der Bundesliga genau jene Gemälde, die dem jungen Rangnick als Ideale bereits vorschwebten, als er 1984 Trainer beim Bezirksligisten Backnang wurde, später beim TSV Lippoldsweiler und beim SC Korb. Sein Weg hat ein Vierteljahrhundert gedauert: Von der Pike auf, über Jahre mit dem Stigma Professor, bis zum Trainerprimus im Land.

Rangnick musste zwei Schritte zurück gehen, um in Hoffenheim sein Milieu zu finden. Im Kraichgauer Innovationsparadies hat er grüne Welle, "bei uns laufen keine Neunmalklugen herum, die ihm den Fußball erklären", sagt Mäzen Dietmar Hopp, der Hoffenheim fürstlich, aber ohne Einmischung ins Sportliche bezuschusst.

Ausbildung zum Allesmacher

Jürgen Manzke, Rangnicks erster Präsident in Backnang, erinnert sich, der Trainer habe schon damals, wie es oft üblich ist bei Amateurklubs, "an allen Fronten mitgeredet": beim Stadionheft, der Sponsorensuche, beim Nachfüllen des Medizinkoffers. Rangnick besitzt neben dem Trainer-Gen daher die Ausbildung zum Allesmacher. Seine Rolle in Hoffenheim, wo er nach englischem Vorbild Teamchef ist, mit Trainer- und Transferentscheidungs-Hoheit, kann nur verstehen, wer seine Vita kennt.

Nach Rangnicks Aufstieg in die Bundesliga, als Raumdeckungs-Pionier über Reutlingen und Ulm zum VfB Stuttgart, folgte ein zäher Überzeugungskampf: gegen Widerstände des Establishments, gegen egozentrische Spieler und altbackene Vorgesetzte, die lieber Stallgeruch als Viererketten vertrauten. In Stuttgart biss sich Rangnick an Patriarch Mayer-Vorfelder und an den Allüren Krassimir Balakows die Zähne aus. In Schalke nannte ihn Manager Rudi Assauer beim ersten Pressetermin "Rolf", auf dem Platz nervten Divas wie Ailton und Lincoln.

Ich lenke, also bin ich

In Hoffenheim bremsen Rangnick keine Altvorderen, Spezialisten aus Sport und Wissenschaft arbeiten loyal zu. Er kann mit den Spielern auch mal zum Fechten oder Kuchenessen gehen - niemand spöttelt. Manager Jan Schindelmeiser operiert uneitel in Reihe zwei, Rangnicks Umtriebigkeit lobt er: "Ralf ist immer auf Sendung."

Rangnick tut die Aufgehobenheit gut. Man kennt ihn auch als fordernden, ungeduldigen Chef, als ruppigen Bestimmer an der Grenze zwischen Gründlichkeit und Kontrollsucht. Er weiß: "Es gibt Situationen, wo ich anstrengend bin. Wenn ich Bequemlichkeit spüre, kann ich zur Sau werden."

TSG-Verteidiger Andreas Beck sieht Rangnick als "Pädagogen und Diktator, der Leidenschaft vorlebt". Konträrmeinungen konnten Rangnick früher kränken, denn er ist trotz aller Kopflastigkeit emotionsgesteuert. In Hoffenheim ist er mit der Welt im Reinen, viel seltener übellaunig als früher. Er lacht zwar wenig und ist kein Komödiant, doch was er sagt, ist selten fad, weil meist phrasenfrei.

Klinsmann soll über ihn nachgedacht haben

Rangnick will keine Ziele wie "Meisterschaft" auf den Markt posaunen, trotzdem sein Team maximal fordern. Aus dieser Dialektik entwickelte er die Synthese, es gebe auf Erden "kein höheres Ziel, als jedes nächste Spiel zu gewinnen". Eben noch auf Drittliga-Äckern, ist er jetzt: ganz oben. Sogar das Establishment (z.B. Udo Lattek) beklatscht den Oberlehrer a.D.

Jürgen Klinsmann soll 2004 über Rangnick als Co-Bundestrainer nachgedacht haben. "Das wäre nie ein Thema für mich gewesen", sagt der 50-Jährige, er sei der Anti-Assistent schlechthin, er brauche den Taktstock. Den FC Bayern will Klinsmann ähnlich wie Rangnick Hoffenheim umbauen, er hat es aber viel schwerer.

In Hoffenheim kann man problemlos mit deutscher Führungsspielerkultur brechen, man kann spitze Hierarchien abschaffen, in der lauffaule Stürmer Abwehrarbeit verweigern oder Leitwölfe den Betriebsfrieden stören, sobald sie um Pfründe fürchten. Rangnick hat, wie Vorbild Arsène Wenger bei Arsenal, aus erziehbaren Jungprofis ein kampffreudiges Künstlerkollektiv gebaut, ohne raubauzige Routiniers. Eine Elf, die charakterlich integer, aber nicht naiv sein soll; die gewitzten Tempofußball anbietet, der auf streng geregelter Balleroberung beruht. Seit 1984 hat Rangnick diese Bausteine aufgelesen wie Vögel Brotkrümel.

"Das einfache Spiel ist das geniale"

Nach 24 Trainerjahren scheint er aus den Gedankenfluten seines rastlos ratternden Fußballhirns das herauszufiltern, was in der Praxis umsetzbar ist, für Spieler verdaubar. Diesen Mut zur Mäßigung hat er eifernden Berufsanfängern voraus. "Das einfache Spiel ist das geniale", sagt er. Und jeder schlaue Taktikkniff verpuffe, weiß Rangnick, "wenn er nicht durch Überzeugungstransfer beim Spieler ankommt". Neulich in Bremen griff Hoffenheim den Gegner ausnahmsweise erst nahe der Mittellinie an. Rangnick sah: "Sagst du jungen Spielern: Lass den Gegner kommen, heißt das für sie: weniger aggressiv! Ratzfatz stand's 1:4".

Das soll in München nicht passieren, Rangnick hat der internationalen Presse erzählt, man wolle "nicht die Trikots" der Bayern abholen, "sondern ihren Skalp". Sollten sie an diesem Freitag verlieren, wird man ihm diesen flapsigen Spruch vorhalten. In solchen Momenten galoppiert der Bauchmensch Rangnick, der in Schalke zum Abschied eine denkwürdige Ehrenrunde drehte - und in Backnang, nach seinem ersten Titel als Trainer, zum letzten Spiel in Murrhardt mit dem Fahrrad fuhr.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: