HIV-infizierte Sportler:Bloß nicht als Stubenhocker enden

Die Zeit, in der die HIV-Diagnose einem Todesurteil gleichkam, ist vorbei: Immer mehr Positive entdecken den Spaß am Sport.

Ronny Blaschke

Vor dreizehn Jahren erhielt Ralph Ehrlich seine Diagnose, er war schockiert, aber nicht am Ende. Es vergingen keine zwei Tage, ehe er den Entschluss fasste, sein Leben als HIV-Positiver mit positiven Inhalten zu füllen. Freunde von ihm, die sich infiziert hatten, verprassten ihr Geld, verfielen in Depressionen, suchten mit ihrem Rentenausweis nach Vergünstigungen. Ralph Ehrlich krempelte sein Leben um, er änderte seine Ernährung, verzichtete auf Alkohol und: Er trieb Sport. Mehr als früher, viel mehr. Er sagt: "Ich wollte nicht als Stubenhocker enden."

HIV-infizierte Sportler: Earvin "Magic" Johnson bekannte sich 1991 zu seiner Krankheit. 1992 gewann er die olympische Goldmedaille im Basketball.

Earvin "Magic" Johnson bekannte sich 1991 zu seiner Krankheit. 1992 gewann er die olympische Goldmedaille im Basketball.

(Foto: Foto: AP)

Mitte der neunziger Jahre begann eine Zeit, in der HIV nicht mehr als sofortiges Todesurteil galt, antiretrovirale Medikamente, hieß es, konnten die Lebenszeit um zwanzig bis dreißig Jahre verlängern. Ehrlich war sich dessen bewusst, doch er wollte nachhelfen. Er fuhr Fahrrad, ging schwimmen. Und er lief und lief und lief.

Vor anderthalb Jahren trat er einem Projekt bei: Zwanzig Positive bereiteten sich auf den Berliner Marathon vor, Frauen und Männer, Heterosexuelle und Homosexuelle, jung und alt. Sein Hausarzt riet ihm von der Anstrengung ab, er fürchtete, Ehrlich könnte sich zu Tode rennen. Sein Gegenargument: "Immer hieß es: Du sollst nicht trinken, du sollst nicht rauchen, du sollst viel schlafen, du sollst, du sollst. Davon hatte ich genug!"

Tränen bei Kilometer 38

Die Gruppe trainierte hart, sie wurde zu Läufen in ganz Deutschland eingeladen, gesunde Sportler solidarisierten sich. Ehrlich ging den Marathon im September ruhig an, er wollte das Ziel erreichen, alles andere war Nebensache, und sein Körper spielte das Spiel mit. Bei Kilometer 38 kamen ihm die Tränen, er war allen Pessimisten und seinen Zweifeln buchstäblich davongelaufen. Als er die Ziellinie überquerte, zitterte er am ganzen Körper, seine Zeit: rund fünfeinhalb Stunden. Insgesamt erreichten elf aus der Gruppe das Ziel.

"Es war mein phantastischstes Erlebnis, ich habe gemerkt, dass ich noch etwas Großes leisten kann", sagt Ehrlich. "Mein Körper ist nicht so schwach, wie es mir viele einreden wollten. Von dieser Krankheit lasse ich mich nicht besiegen!" Seit drei Jahren arbeitet Ehrlich, 45, ehrenamtlich als Sprecher für die Berliner Aidshilfe, er möchte bald eine Laufgruppe gründen.

Bernhard Bieniek findet das gut. Der Mediziner beschäftigt sich seit zwanzig Jahren mit HIV, seit acht Jahren betreibt er eine Schwerpunktpraxis für Infektionskrankheiten. "Sport beeinflusst Psyche und Körperlichkeit von HIV-Positiven", sagt Bieniek. Ein Beispiel ist Lipodystrophie, eine Fettverteilungsstörung, unter der viele leiden.

Fett wird in Armen, Beinen oder im Gesicht abgebaut und am Rumpf wieder angelagert. "Regelmäßiger Sport kann das verlangsamen", sagt Bieniek. Auch das Herzinfarktrisiko kann durch Ausdauertraining gemindert werden, von Hochleistungssport rät er jedoch ab.

In seltenen Fällen führt der Sport zur Sucht

Die Grenze der Überlastung wird bei Positiven schneller erreicht, die Regeneration dauert länger. Auch Therapie und Medikamente müssen auf den Sport abgestimmt werden, es können Nebenwirkungen auftreten, etwa Neuropathien, Erkrankungen des peripheren Nervensystems. Sie verursachen Gefühlsstörungen in den Füßen, so dass man beim Laufen den Auftritt nicht mehr genau spüren und sich verletzen kann.

Insgesamt sind laut Unaids, einer Organisation der Vereinten Nationen, weltweit 25 Millionen Menschen an Aids gestorben, seit das HI-Virus 1981 entdeckt worden ist. Zurzeit sind rund 33 Millionen infiziert, in Deutschland sind es etwa 56.000, davon achtzig Prozent Männer.

Bernhard Bieniek, 48, hat den Eindruck, dass sich die Mehrheit seiner Patienten in den vergangenen Jahren auf die medizinische Entwicklung verlassen habe. "Früher wurde der Sport als Strohhalm gesehen, heute wird der Lebensstil nicht mehr so oft verändert." Auf der anderen Seite kann Sport - in seltenen Fällen - sogar zur Sucht führen, da im Kampf gegen die Symptome nichts unversucht bleiben soll. Die Folge: eine Überschätzung der Leistungsfähigkeit. Bieniek verweist auf die Endorphine, die durch den Sport freigesetzt werden und bei Positiven für Wohlbefinden sorgen können, schließlich sind sie anfälliger für Stimmungsschwankungen.

Auf der nächsten Seite: Magic Johnson als Vorbild, Greg Louganis' Furcht vor Viren im Wasser und der Kampf des Mediziners gegen die Vorurteile.

Bloß nicht als Stubenhocker enden

Bewiesen hat das besonders Magic Johnson. Der Basketballstar der Los Angeles Lakers bekannte sich im November 1991 zu seiner Erkrankung. Trotzdem gewann er mit der amerikanischen Auswahl 1992 Olympia-Gold. Anfang 1996 wagte er eine Rückkehr in die Profiliga NBA, doch Mitspieler und Gegner äußerten Furcht vor der Ansteckung.

Ähnlich erging es seinem Landsmann Greg Louganis, der in den siebziger und achtziger Jahren Olympiasieger und Weltmeister im Wasserspringen geworden war. 1994 gab er bekannt, sechs Jahre von seiner Infektion gewusst zu haben. Er schilderte seine Angst bei Olympia 1988 in Seoul. Damals hatte er sich bei einem Sprung am Hinterkopf verletzt und war blutend ins Wasser gefallen. Louganis hatte gefürchtet, seine Konkurrenten könnten sich im Wasser anstecken. Mediziner Bernhard Bieniek zerstreut diese Angst. "Der Virus hätte im chlorierten Wasser nicht lange überlebt."

"So einen Sport gibt es nicht"

Immer wieder redet er gegen einen weit verbreiteten Irrglauben an: "Die Ansteckung erfolgt durch Sperma und Blut." Nicht durch Schweiß, nicht durch Speichel, nicht durch Tränen. "Ich kenne bis auf Boxen keinen Sport, in dem Blut fließt, und selbst wenn es fließen sollte, müsste es in die Wunde eines anderen gerieben werden. So einen Sport gibt es nicht."

Längst gilt die Vorsorgeregel, wonach blutende Athleten aus dem Wettkampf genommen und Wunden verbunden werden müssen. Magic Johnson und Greg Louganis engagieren sich für Aufklärung gegen Aids, sie sollen ein weitgehend gewöhnliches Leben führen.

Schlimmer erging es dem amerikanischen Tennishelden Arthur Ashe. 1988 war er durch eine infizierte Blutkonserve während einer Operation an HIV erkrankt, fünf Jahre später war er tot. Auch Michael Westphal, bekannt geworden durch seine Auftritte im deutschen Davis-Cup-Team, und der britische Eiskunstläufer John Curry starben an den Folgen von Aids. Sie standen mit ihren Schicksalen in der Öffentlichkeit. Wie viele Sportler aber leben im Verborgenen mit dem Virus?

"Schweigen grenzt aus", heißt es in einer Kampagne des früheren Tennisprofis Michael Stich, der 1994 eine Stiftung zur HIV-Aufklärung gegründet hat. Noch gibt es keine aussagekräftigen Studien darüber, wie viele Sportler sich verstecken müssen, und es wird sie auch so bald nicht geben. So kann auch Klaus Wittke nur eine Vermutung äußern, er hat eigene Erfahrungen sammeln müssen.

Wittke erhielt seine Diagnose 1991, seitdem ist er Mitglied der Schwimmgruppe Positeidon, vor fünf Jahren übernahm er deren Leitung. Der Sport hat ihm geholfen, mit dem Schock umzugehen. Als es nun um einen Besuch der Gruppe und um die Genehmigung eines Interviews in der Schwimmhalle im Südwesten Berlins geht, sagt ein Vertreter der Badeanstalt am Telefon: "Ich unterstütze die Gruppe, aber lassen Sie in Ihrem Artikel bitte Ort und Namen der Halle weg, sonst vergrätzen Sie andere Gäste." Intoleranz? Abneigung? In jedem Fall ein Vorurteil, das verbreitet ist, zumeist unterschwellig.

Schuhkarton voller Tabletten

Wittke, 54, hat sich Gelassenheit angeeignet: "Ich genieße jeden beschwerdefreien Tag." In der Anfangszeit von Positeidon, Anfang der neunziger Jahre, mussten Schwimmer überredet werden, sie wollten sich nicht halbnackt zeigen, der Virus hatte auch äußerlich Spuren hinterlassen. Damals wurden nach der Schwimmstunde Therapierezepte verglichen, viele Mitglieder starben. Mittlerweile ist die Beständigkeit groß, Wittke muss nicht mehr einen Schuhkarton Tabletten mit in den Urlaub nehmen, es reicht eine kleine Dose.

"Ein wichtiger Teil unserer Gruppe ist das soziale Miteinander", sagt Wittke, der Kaffeeplausch nach dem Sport, die Radtour im Sommer. Die Mitglieder schaffen sich ihre eigene Öffentlichkeit, ein befreiendes Gefühl, und trotzdem bleiben sie unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Wittke kennt die Geschichten seiner Mitstreiter, sie handeln von Ausgrenzung, Mobbing, Diskriminierung. Viele sind finanziell auf Positeidon angewiesen, sie sind arbeitslos, leben von einer kleinen Rente oder Hartz IV, sie könnten sich den Zutritt zu einer Schwimmhalle oder die Mitgliedschaft in einem Fitness-Studio nicht leisten.

Positeidon wird mit Spendengeld der Berliner Aidshilfe gestützt. Ähnliche Angebote sind in Deutschland rar, vor allem auf dem Land, deshalb ziehen viele Positive nach Berlin. "Es ist schwer, einen privaten Sponsor zu finden", sagt Wittke. Auch Vereine und Verbände schaffen kein spezielles Angebot. Einige Schwimmer haben bei Positeidon ihr Selbstwertgefühl so sehr aufgefrischt, dass sie sich wieder fit für das Arbeitsleben gefühlt haben. Wittke will bei der Aidshilfe ein breites Sportangebot etablieren. "Es geht nicht um Höchstleistungen." Nun ja, vielleicht doch - in diesem Zusammenhang sind Höchstleistungen eben relativ.

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