Historie:Traum und Trauma

Erst Oskar, dann Gernot: Wie Frankreich zum Schicksalsland der eigentlich deutschen Fußball-Familie Rohr wurde.

Von Leo Klimm, Bordeaux/Cap Ferret

Es ist kein Sportleressen, das im Château du Haillan serviert wird. Ein mächtiges Stück Rippe à la bordelaise mit Pommes. Zuvor ein bisschen Spargel und viel Foie Gras. Dazu ein Bordeaux, was sonst? Im Château du Haillan, dem mondänen Klubhaus von Girondins Bordeaux, geht es sehr französisch zu. Deswegen kommt Gernot Rohr gern hierher. "So ist mein Frankreich", sagt Rohr: "Ein bisschen leichtlebig vielleicht. Aber das ist mir lieber als zu ernst." Lieber als zu deutsch, soll das heißen. Darauf einen kräftigen Schluck. Rohr glaubt fest an sein Frankreich, auch wenn es sich ausgerechnet jetzt, zur Europameisterschaft, in keiner guten Verfassung zeigt.

Ins Château du Haillan kommt Rohr natürlich auch deshalb gern, weil er so viele gute Fußball-Erinnerungen damit verbindet. Das Schloss ist umgeben vom Trainingsgelände der Girondins-Profis, mit denen Rohr in den Achtzigerjahren dreimal französischer Meister wurde und zweimal Pokalsieger. Gleich daneben steht das Internat, in dem Rohr die späteren Weltmeister Bixente Lizarazu und Christophe Dugarry mit ausgebildet hat. Und die Kellnerin im Château du Haillan schwärmt heute noch von 1996, als die Girondins unter dem Trainer Rohr in einem dramatischen Rückspiel den AC Mailand aus dem Uefa-Pokal warfen. "Ah oui", sagt sie, "das waren Zeiten, Gernot!" Sie sagt "Gär-notttt", wenn sie den teutonischen Namen ausspricht. Rohr - legeres Sakko, elegantes Halstuch - antwortet in akzentfreiem Französisch. Er kann den Stolz darüber nicht verbergen, dass "Gär-notttt" in Bordeaux für Großes steht.

Wobei er sich, als er in den Siebzigerjahren nach Frankreich kam, gar keinen Namen mehr machen musste, wie er sagt: "Nur einen Vornamen." Rohr, das klang damals noch wie Donnerhall im französischen Fußball. Großonkel Oskar, genannt Ossi, der erste deutsche Auslandsprofi überhaupt, hatte bleibenden Eindruck hinterlassen, als er in den fünf Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg 117 Tore für Racing Straßburg schoss und im Jahr 1937 sogar Torschützenkönig wurde. "Frankreich, das ist das Schicksalsland unserer Familie", sagt Gernot Rohr.

Allerdings ist sein Frankreich ein ganz anderes als das des legendären Onkels - das Schicksal meinte es unterschiedlich gut mit den beiden. Für Ossi war Frankreich erst Himmel, dann Hölle. Für Gernot war es umgekehrt: Frankreich bedeutete die Rettung. Das Leben der Rohrs ist eine Fußballgeschichte - und ein Spiegel der Geschichte. Fast ein Jahrhundert deutsch-französischer Beziehungen, mit allen Tiefen und allen Höhen. Wenn Gernot Rohr, heute 62 Jahre, während der Europameisterschaft als Frankreich-Erklärer im ARD-Frühstücksfernsehen auftritt, erzählt er kaum von dieser Geschichte. Aber um die große Geschichte hinter dem Fußball geht es ihm trotzdem immer.

Als Gernot Rohr im Château du Haillan gerade beim Dessert ist, betritt ein Mann den Raum. Es ist Patrick Battiston. Wie der Zufall spielt. Battiston ist der, den der deutsche Torhüter Toni Schumacher bei der WM 1982 mit einem Karate-Sprung brutal verletzt hatte. Fast hätte man Battiston nicht erkannt mit dem lichten Haar und dem grauen Dreitagebart. Er trainiert heute die zweite Mannschaft. Über die alte Geschichte mit Schumacher will er nicht reden. Nein, beteuert Battiston, er habe keine Probleme mit den Deutschen. Schon gar nicht mit Gär-notttt. "Der ist ja gar kein Deutscher!" Rohr grinst.

Es ist ja tatsächlich so, dass er 1982 in Sevilla beinahe mit auf dem Platz gestanden hätte - für Frankreich. Der Trainer der Équipe Tricolore hatte ihn angefragt. Rohr hatte sich schon zuvor einbürgern lassen. Das hatte auch etwas von einem Bekenntnis. Weil er als Jugendspieler aber schon das deutsche Trikot getragen hatte, wurde es nichts mit der WM-Teilnahme für die neue Heimat.

Gernot Rohr war nicht nur wegen des Geldes 1977 nach Bordeaux gegangen, sondern wegen Frankreich. Ein Kreuzbandriss als Jugendspieler bei Bayern München hatte ihn gelehrt, dass es schnell vorbei sein kann mit dem Fußball. Dass er auch etwas anderes können musste. Rohr studierte nebenher Romanistik - und etwas Besseres als das Angebot aus Bordeaux konnte ihm nicht passieren. Großonkel Ossi, der Profi-Pionier, war 1934 nur wegen des Geldes nach Frankreich gegangen. Dass die Entscheidung in Zeiten der Hitler-Herrschaft zum politischen Akt wurde, war ihm wohl nicht bewusst.

Historie: Der Schuss zum ersten Meistertitel des FC Bayern: Oskar "Ossi" Rohrs verwandelter Strafstoß 1932 gegen Eintracht Frankfurt.

Der Schuss zum ersten Meistertitel des FC Bayern: Oskar "Ossi" Rohrs verwandelter Strafstoß 1932 gegen Eintracht Frankfurt.

(Foto: FC Bayern Erlebniswelt)

"Ossi Rohr war ein völlig unpolitischer Mensch", sagt der Fußballhistoriker Karl-Heinz Schwarz-Pich, der den 1988 verstorbenen Rohr häufig getroffen hat. "Er wollte als junger Mann unbedingt Profi werden, und weil die Nazis bezahlten Sport als undeutsch ablehnten, musste er dafür ins Ausland." Auch Ossi war aus Mannheim, der Heimatstadt der Rohrs, erst zu den Bayern gegangen - und dort schnell zum Helden avanciert: Im ersten Spiel erzielte er fünf Tore. Der Elfmeter, mit dem er den Münchnern im Endspiel gegen Eintracht Frankfurt 1932 den Weg zur ersten Meisterschaft ebnete, hat bis heute bei vielen Bayern-Fans etwas Mythisches. Auf einem Foto ist festgehalten, wie Rohr, Spitzname "Schnackl", so stark auf den Ball drischt, dass die Kreide vom Elfmeterpunkt zu einer Wolke aufwirbelt. "Der Mann war auf dem Platz eine Bombe", sagt Schwarz-Pich.

Nach der Machtergreifung der Nazis folgte Rohr im Sommer 1933 seinem Trainer Richard "Dombi" Kohn, der Jude war, zu Grasshoppers Zürich. Der Traum vom Profivertrag wurde dort aber enttäuscht. Erst ein Jahr später erfüllte er sich, mit dem Wechsel nach Straßburg. Rohr bekam eine Drei-Zimmer-Wohnung gestellt und ein Citroën-Cabrio. Er wurde vom Staatspräsidenten empfangen. Auch viele Liebschaften soll er gehabt haben, so jedenfalls hat es Rohr am Stammtisch in Mannheim später erzählt. "Der Ossi war bei den Frauen äußerst beliebt", sagt Karl Ziegler. Der frühere Radfahr-Bundestrainer, heute 96, war einer von Rohrs engsten Freunden. Aber das süße Leben endete, als 1939 der Krieg ausbrach. Über das, was dann kam, hat Ossi Rohr nicht gesprochen. Nicht am Stammtisch und auch nicht, wenn er mit Ziegler allein war.

Bisher kursieren verschiedene Erzählungen über diese Zeit. Eine besagt, Ossi Rohr sei vor dem Einmarsch deutscher Truppen bis 1942 in den unbesetzten Süden Frankreichs geflohen. Einer anderen Version zufolge soll der bei den Nazis in Ungnade gefallene Mittelstürmer schon 1940 von den Deutschen festgesetzt worden sein. Für beide Fassungen fehlen stichhaltige Belege. Forscher Schwarz-Pich präsentiert andere Erkenntnisse. Ihm zufolge waren es die Franzosen, die Rohr als Bürger eines Feindstaates im Dezember 1939 festsetzten und über Nacht in ein Internierungslager steckten. Das geht, so Schwarz-Pich, aus der Personalakte Rohrs bei der Stadt Mannheim hervor.

In einem handschriftlichen Lebenslauf, den er in den Fünfzigern vor Antritt einer Stelle bei den Verkehrsbetrieben verfasste, habe Rohr selbst einen zweieinhalbjährigen Aufenthalt in einem Internierungslager in Südfrankreich angegeben. Unbekannt ist, wo genau Rohr gewesen sein soll. Aus Berichten wie jenem des Schriftstellers Arthur Koestler weiß man aber, dass die Zustände in französischen Lagern grausam waren: "Die Insassen mussten auch im Winter teils ohne Behausungen auskommen und hatten kaum zu essen", sagt Schwarz-Pich. Rohrs Frau Josephine berichtete ihm, wie ihr Mann noch Jahrzehnte später im Traum aufschreckte und vor Angst schrie - oft auf Französisch. Aber auch mit ihr wollte Ossi Rohr nie über das Erlebte sprechen.

Im Frühling 1942 kam Rohr kurz frei und durfte sich als Spielertrainer beim südfranzösischen FC Sète betätigen. Doch der Albtraum ging weiter. Ossi Rohr wurde erneut verhaftet, wegen "kommunistischer Umtriebe" - ein Vorwurf der NS-Kollaborateure des Vichy-Regimes, den Rohr immer bestritt. Nach einem Monat wurde er an die Deutschen überstellt, die ihn ins KZ Kislau bei Karlsruhe brachten, wo er aber nach wenigen Tagen freikam. Noch 1942 wurde Rohr dann als Flak-Soldat an die Ostfront geschickt, wo er - zu seinem Glück - bald einen Streifschuss am Oberschenkel erlitt. Der Legende nach wurde er dann von einem Piloten, der Bayern-Anhänger war, erkannt und ausgeflogen. Nach dem Krieg wurde Ossi Rohr in Mannheim als Legende verehrt. Auch wenn stadtbekannt war, dass er Alkoholprobleme hatte. "Er war ein gebrochener Mann", sagt Schwarz-Pich.

Auch dem Großneffen Gernot hat Ossi wenig erzählt, weder von seiner Glanzzeit noch von seinem Elend in Frankreich. Gernots Interesse für das Land wurde anders geweckt, nämlich von Vater Philipp. Der war Kriegsgefangener in Nordfrankreich gewesen - und kam frühzeitig frei, weil er sich fälschlich als Bruder des Racing-Stars ausgab. Anders als Ossi wurde Philipp Rohr von den Franzosen gut behandelt. Später wurde er Französischlehrer und Trainer bei verschiedenen Mannheimer Vereinen. Beide Leidenschaften, Frankreich und Fußball, gab er an Gernot weiter.

rohr

"Man fühlt sich als Franzose auch als Weltbürger": Gernot Rohr, 62, vor dem Château du Haillan, dem Clubhaus von Girondins Bordeaux.

(Foto: Klimm)

Der Vater bildete den Sohn in bester Mannheimer Manier zum kompromisslosen Vorstopper aus - und schickte ihn zur ersten Profistation nach München, wo Gernot Rohr in die große Bayern-Mannschaft von Franz Beckenbauer und Katsche Schwarzenbeck hineinwachsen sollte. Der Vater war es auch, der ihn nach dem Kreuzbandriss in München beim SV Waldhof Mannheim unterbrachte, den er selbst trainierte. Der Ruf nach Bordeaux kam 1977, als ein in Deutschland lebender französischer Geschäftsmann den Kontakt herstellte.

39 Jahre später sitzt Gernot Rohr auf seiner Terrasse in Cap Ferret, einem properen Atlantik-Badeort 60 Kilometer von Bordeaux entfernt. Der Blick geht auf die Bucht von Arcachon, das ständig wechselnde Licht lässt das Wasser zwischen Blau- und Grüntönen changieren. Die Luft riecht satt nach Pinie. "Hier ist mein port d'attache", sagt Rohr. Sein Ankerhafen.

Rohr hat, als er hier ankam, die Last der Geschichte noch gespürt. "Einerseits feierten mich unsere Fans für meine deutsche Gründlichkeit in der Abwehr." Andererseits musste Rohr nach dem WM-Skandalspiel von Sevilla 1982 bei Auswärtspartien in der französischen Liga wiederholt Schläge der gegnerischen Fans einstecken.

Aber die Zeiten ändern sich. Rohr heiratete ins lokale Establishment ein, die Tochter des örtlichen Abgeordneten wurde seine Frau. In Cap Ferret hat er nach seiner aktiven Zeit die Fußballschule Cap Girondins gegründet. Seine Schwester lebt auch hier. Und ein paar Kilometer weiter betreibt Rohr ein Hotel. Er hat es sich von der Prämie geleistet, die er 1996 als Trainer für das "Wunder" im Viertelfinale gegen den AC Mailand erhielt. In seinem Haus hängt die Plakette, die Rohr danach von der Uefa für das verlorene Finale gegen Bayern München bekam. Sie hängt in der Toilette. Der ironische Ehrenplatz offenbart, was das Finale für ihn bedeutete: eine Niederlage, ja. Aber eine, die ihn trotz allem stolz macht.

Auch zum FC Bayern haben die Rohrs ein besonderes Verhältnis. "Wäre ich bloß nie aus München weggegangen", soll Ossi Rohr laut Schwarz-Pich immer wieder gesagt haben. Bei der Beerdigung 1988 erwies ihm der FC Bayern die Ehre, eine ganze Abordnung reiste im Mannschaftsbus an. Von dem kreidestäubenden Elfmeter 1932 hat Gernot Rohr vor einigen Jahren ein Ölbild fertigen lassen. Es hängt jetzt als Leihgabe im Vereinsmuseum in München. Und in Rohrs Devotionalienzimmer in Cap Ferret hängt das Mannschaftsfoto von 1973, das den jungen Gernot neben Stars wie Beckenbauer und Sepp Maier zeigt. "Bayern ist immer noch mein Lieblingsverein", sagt Rohr.

1998, nach der Trainerzeit bei Girondins, sah es so aus, als könnte er sich den Bayern oder jedenfalls Deutschland wieder annähern. Eintracht Frankfurt engagierte ihn als Technischen Direktor, um etwas abzuhaben vom damaligen Weltmeister-Spielwitz der Franzosen. Die Sache ging schief, Rohr zerstritt sich in Frankfurt. "Seitdem", sagt er, "vagabundiere ich herum." Nizza, Salzburg, Bern, Nantes. In den vergangenen Jahren trainierte er die Mannschaften von Gabun, Niger und Burkina Faso. Alles ehemalige französische Kolonien. "Man fühlt sich als Franzose auch als Weltbürger", sagt Rohr. Und dennoch: Vor Kurzem hat er in Deutschland die Wiedereinbürgerung beantragt - denn heute ist die doppelte Staatsbürgerschaft möglich.

Am meisten aber fühlt er sich als Mittler zwischen Frankreich und Deutschland. Etwa, wenn er samstags im französischen Bezahlfernsehen die Bundesliga kommentiert. Dann erklärt er, wie man Badstuber ausspricht und wo Darmstadt liegt. Umgekehrt will er jetzt bei der EM bei den Deutschen dafür werben, "Frankreich nicht zu verkennen". Sein Frankreich, dieses stolze, aber krisengeplagte Land. Gefangen in Konfliktritualen, wie die Streiks dieser Tage wieder einmal offenbaren. Tief getroffen vom islamistischen Terror, der als ständige Bedrohung auch die EM begleitet. "Aber Frankreich ist jung, und die Franzosen erhalten sich trotz allem eine gewisse Sorglosigkeit", sagt Rohr: "Das mag ich. Ich glaube, die Zukunft ist rosig."

Rohr ist Optimist, seit Frankreich ihm, der doch fast Sportinvalide war, eine zweite Chance gab. Selbstverständlich sieht er die Blauen auch als Topfavoriten auf den EM-Sieg im eigenen Land. So, wie sie 1984 zu Hause Europameister wurden - als Gernot Rohr nicht mitspielen durfte.

Ein Rohr für Frankreich, das wäre es. Die deutsch-französische Fußballer-Geschichte seiner Familie fortschreiben. Gernots erster Sohn Emmanuel ist schon dreißig. Emmanuel hatte Talent, machte aber nichts daraus. Der zweite Sohn, aus zweiter Ehe, heißt Oscar - eine Hommage an den großen Onkel, aber in der Mitte mit "c" geschrieben, französisch eben. Oscar ist 13. Ein guter Leichtathlet. Leider kein Fußballer. Gernot Rohr deutet auf den kleinen Johann, vier Jahre, den dritten Sohn aus dritter Ehe. Johann liegt schlafend auf dem Wohnzimmersofa. "Ein Eisen", sagt Rohr, "habe ich aber noch im Feuer!"

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: