Hilde Gerg:Unwiderstehliche Wiederkehr

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Allen gesundheitlichen Problemen zum Trotz gewinnt Hilde Gerg nach 13 Monaten wieder eine Weltcup-Abfahrt.

Von Wolfgang Gärner

Vor zwei Wochen haben sie die Taktik geändert. Hilde Gerg war Fünfte des Super-G von Megeve geworden, das war nicht schlecht für die Rekonvaleszentin, konnte aber eine, die etliche Weltcuprennen gewonnen hatte, auch nicht in helle Begeisterung versetzen. "Da habe ich realisiert, dass ich noch nicht ans Limit ging." Also lautete der Beschluss: "Nicht mehr auf die Verhältnisse schauen oder sich damit befassen, was Unvorhergesehenes passieren könnte, sondern: auf Angriff fahren."

Die neue Taktik hat prima angeschlagen, ihr am vorletzten Samstag den ersten Platz im Super-G von Veysonnaz eingebracht, eine Woche später einen Sieg in Cortina, ihren ersten seit 13 Monaten in einer Abfahrt. "Jetzt hat der Kreis sich ganz geschlossen", schwärmte die 28-Jährige: "bei meinem letzten Sieg trug ich das Rote Trikot" (der Spitzenreiterin im Abfahrtsweltcup) - das war am 6. Dezember 2002 in Lake Louise, und tags darauf riss das Kreuzband in ihrem linken Knie.

"Heute habe ich erstmals seitdem wieder das Rote Trikot getragen - und gewonnen." Halb so schlimm, dass sie es als Vierte der gestrigen gleich wieder verlor an Renate Götschl (Zweite hinter Olympiasiegerin Carole Montillet): "Wir sind keine Maschinen", sagte sie zu diese Ausgang der Rennserie von Cortina, "es war eine gute Woche für mich."

Nicht, dass in der Abfahrt ihr Nachholbedarf viel größer gewesen wäre als im Super-G: "Ich war in der Abfahrt zuvor auch schon zwei mal knapp dran", Zweite in St. Moritz, 17/100 hinter der Österreicherin Götschl, Zweite in Veysonnaz, 18/100 hinter der Französin Montillet. Am Samstag endlich vor diesen beiden: 0,30 Sekunden vor Götschl, 0,39 vor Montillet.

Die Teamkolleginnen Martina Ertl und Maria Riesch landeten auf den Rängen neun und elf, im Gesamt-Weltcup sind sie Dritte, Fünfte, Zehnte. "Wir fahren viel besser Ski als im letzten Winter", konstatiert Cheftrainer Wolfgang Maier und erhellt die unwiderstehliche Wiederkehr seiner besten Abfahrerin: "Hilde Gerg hatte eine traumhafte Rehabilitation und konnte auf einem hohen Niveau wieder einsteigen."

Das war aber erst der Anfang, der Rest musste hart erarbeitet werden. Nicht verzagt ("wenn ich gezweifelt hätte, hätte ich es mir vermutlich gar nicht angetan"), mühsam hingegen schon. Denn Hilde Gerg empfindet erstens: "Auf Reha bin ich immer noch", zweitens hat der Körper sein eigenes Programm und tut im Unterbewussten einiges, was er nicht machen sollte: In ihrem linken Bein, in dem zuerst der Unterschenkel brach und später die Bänder rissen, arbeitet die Beugermuskulatur auf Überlast ("eine reine Schutzfunktion") und ermüdet dadurch zu schnell.

Schwierig, das abzustellen, auch nicht einfach, die anderen Verletzungsnachwehen zu überwinden: "Je weniger Schmerzen, desto besser die Koordination." Die Schmerzen sind großenteils wegtrainiert, austherapiert, die koordinativen Fähigkeiten aber längst nicht auf dem Stand wie einst. Hilde Gerg: "Man muss sich damit abfinden, dass nicht mehr alles so funktioniert".

Die Überzeugung, als sie sich zur Knie-Operation entschloss, verhieß: "Danach ist sofort alles besser". Die Realität selbst nach den Siegen von Veysonnaz und Cortina lautet: "So ein Knie ist auch acht Monate später noch nicht hundertprozentig belastbar." Andererseits kann sie einen gewaltigen Fortschritt seit Anfang Dezember registrieren, wo sie auch schon Spitzenplätze einfuhr. "Aber manches andere wäre damals noch nicht möglich gewesen", zum Beispiel vier Rennen in fünf Tagen zu bestreiten wie in Cortina. Oder mit vollem Risiko die Piste runter zu rasen: "Ich musste lernen, die Ski laufen zu lassen, auch wenn die Verhältnisse nicht optimal sind. Dass man über die Schwelle gehen kann." Gehen muss.

Der Beschluss von Megeve war das eine, die Umsetzung ein anderes: Um den Sicherheitsweg zu verschmähen, braucht es noch mehr Konzentration, als ohnedies schon vonnöten ist im Hochgeschwindigkeitssport. Die Risiko-Gewöhnung findet normalerweise im Training statt, für Hilde Gerg stand die Vorbereitung im Zeichen eines behutsamen Aufbaus, "der Vollgas-Block fiel deshalb für mich weg, die Angriffsphase wurde verlegt auf die Rennen."

Ihre Angriffe wurden zusehends erfolgreicher, Hemmungen fielen ab, gegen die letzten davon wurde entschieden vorgegangen: "Der Kopf ist es, woran wir arbeiten." Mit dem Resultat, dass sie sich keine Gedanken mehr macht, wenn wie am Samstag in Cortina die Sicht schlecht ist und der Pistenzustand ungewiss. "Ich fühle mich sicher, ich fahre meine Rennen, ich traue mich anzugreifen." Ein paar Mal hat es ihr die Ski verschlagen am Samstag, einige kritische Situationen waren zu überstehen.

Wie kritisch? "So, dass ich mich gut herausretten konnte." Jetzt zahlt sich aus, dass sie nach Operation und Reha nicht auf Tempo mit ihr trainierten, sondern erst mal an der Basis, der Technik arbeiteten. "Mit den Rennen kommt die Sicherheit", und mit den Jahren kommt die Erfahrung: Älteren Fahrerinnen wie ihr kommt ihre profunde Streckenkenntnis zu Gute.

Im Gesamt-Weltcup ist der Zweikampf zwischen Renate Götschl und der Schwedin Anja Pärson entbrannt - kann Hilde Gerg womöglich einen Dreikampf daraus machen? "Nein, schön wäre es, am Ende Dritte zu sein. Aber Nicola Hosp und Martina Ertl haben darauf mehr Chancen."

Für sie selbst ist der Gewinn der Saisonwertung in Abfahrt oder Super-G ein realistisches Ziel. Ein anderes hatte sie sich für Cortina gesetzt: "Dort eine Abfahrt zu gewinnen, das würde mir sehr viel bedeuten. Ein Klassiker, den muss man mal gewonnen haben. Diese Abfahrt fehlt mir noch." Seit Samstag nicht mehr.

© SZ vom 19.1.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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