Hertha BSC:Der Scherenschläger

Hertha BSC v Hannover 96 - Bundesliga

Akrobatisches Ausrufezeichen als vorläufiger Schlusspunkt einer spektakulären Formsteigerung: Valentin Stocker bei seinem Tor in Hannover.

(Foto: Mathias Renner/Getty Images)

Nach Eingewöhnungsproblemen blüht der Schweizer Nationalspieler Valentin Stocker bei Hertha BSC auf - erst unter dem neuen Trainer Pal Dardai darf er seine Kreativität entfalten.

Von Javier Cáceres, Berlin

Wenn man Valentin Stocker fragt, wo er dem epochalen Sieg des FC Bayern München gegen den FC Porto beigewohnt hat, so erntet man zunächst eine in Falten geworfene Stirn. Und dann, wenn der Abend rekapituliert ist, doch noch die Auskunft, dass er bei der Heimkehr aufs Smartphone geblickt habe, als es bereits zwei oder drei zu null gestanden haben muss, und schließlich doch noch den Fernseher einschaltete, um mal zu schauen. Man kann das - einerseits - für überraschend halten; immerhin ist Stocker, 26, als Mittelfeldspieler des Bundesligisten Hertha BSC Berlin von Berufs wegen Profifußballer. Andererseits: Der Schweizer Nationalspieler hat nie ein Hehl daraus gemacht, dass es viele Dinge gibt in seinem Leben, die ihm wichtiger sind als der Sport. "Ich bin glücklich, dass ich meinem Traum nachgehen darf. Dass ich Fußballspieler sein darf", sagt er. Aber: "Ich bin ganz gut damit gefahren, dass sich bei mir nicht alles um Fußball dreht."

Stocker hat es gern, wenn er die Freiheit bekommt, links, rechts oder zentral zu spielen

21 Bundesligaspiele hat Stocker nunmehr bestritten, und wenn Hertha einigermaßen entspannt zum Auswärtsspiel beim FC Bayern an diesem Samstag reisen kann, dann liegt das nicht zuletzt daran, dass die Schwierigkeiten bei der Eingewöhnung überwunden sind. Er hat neun Treffer vorbereitet und zwei selbst geschossen, darunter eines der zweifellos schönsten Tore der laufenden Saison: per Scherenschlag zum 1:1 in Hannover. "Faktisch gesehen zählt jedes Tor gleich viel", sagt Stocker. Doch "für die Begeisterungsfähigkeit spielt die Ästhetik eine Rolle". Mithin ist Stocker für die Entwicklungsfähigkeit der Hertha die zentrale Figur: Er ist aktuell der einzige Spieler Herthas, der auf dem Platz eine vornehme Erscheinung ausstrahlt. Der das Besondere hat.

Warum es so lange gedauert hat, bis er all die Kreativität zur Entfaltung bringen konnte, die in ihm steckt? "Schwer zu sagen", sagt er und findet doch Erklärungen. Das Jahr sei "extrem lang" gewesen: "Wir mussten mit dem FC Basel unbedingt Meister werden, weil das sonst noch nie eine Mannschaft geschafft hatte in der Schweiz: fünf Mal in Serie Meister zu werden. Danach kam die Weltmeisterschaft, was ja auch eine richtig große Belastung war für den Kopf." Obendrauf kam dann der Wechsel nach Berlin und das Wort vom "Königstransfer", weil er mit einer Ablöse von 3,2 Millionen Euro der teuerste Spieler war, den sich die Hertha im Sommer leistete. In schwierigen Momenten richtete er sich an der Stadt auf; die Entscheidung gegen die Offerten aus Mönchengladbach oder Gelsenkirchen war ja eine bewusste Entscheidung für die deutsche Hauptstadt. Stocker, Sohn eines Lehrerehepaars, schwärmt von der Vielfalt Berlins, dem Wandel, der Verschiedenheit der Menschen, und von der Faszination, die politische Geschichte des 20. Jahrhunderts in einer Art Freilichtmuseum geliefert bekommen.

"Zu der Zeit, wo es im Fußball nicht so lief, haben wir uns gesagt: Okay, aber wir haben recht viel Glück gehabt mit der Stadt", sagt er und fügt hinzu, dass er in der Rückschau vielleicht zwei, drei Wochen mehr Zeit gebraucht habe, um anzukommen. Was Stocker, noblesse obligé, nicht sagt, ist das, was er wirklich brauchte: einen Trainerwechsel.

Jos Luhukay, der zu Beginn der Saison bei der Hertha die Macht innehatte und Stocker in der zweiten Mannschaft spielen ließ, wurde im Januar entlassen, danach kam in dem derzeitigen Übungsleiter Pal Dardai ein Trainer, der Stocker verstand. "Ich bin ein Spieler, der es gerne hat, wenn der Trainer ihm die Freiheit gibt, links, rechts oder zentral zu spielen. Dadurch wächst für mich persönlich die Verantwortung, weil ich auch etwas zurückgeben möchte", sagt Stocker. "Wenn der Trainer sagt, du kannst dich frei bewegen, dann ist für dich klar: Du bist natürlich auch verantwortlich dafür, dass wir punkten." Bislang ist das vor allem so, weil die Defensive der Hertha besser steht als unter Luhukay. Hertha hat nun schon sieben Spiele in Serie nicht mehr verloren und dabei gerade drei Tore kassiert. Nur die Leichtigkeit merkt man der Hertha bislang allein in Ausnahmesituationen an.

Dabei ist Unbeschwertheit einer der Faktoren, die Stocker zu den Dingen zählt, die ihn am Fußball faszinieren: "Es ist schon so, dass die Essenz des Spielens für mich das Schönste ist." Wenn man nicht gerade im Abstiegskampf steckt, geht derlei viel einfacher vom Fuß.

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