Harry Kane bei der WM:Englands vorbildlicher Retter

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Vollstes Vertrauen: Trainer Southgate mit Harry Kane (l.), der es auf 30 Saisontreffern in der Liga brachte. (Foto: Lee Smith/Reuters)
  • Harry Kane ist der beste Stürmer der englischen Nationalmannschaft. Wenn er vorangeht, folgen die anderen.
  • Im ersten WM-Spiel gegen Tunesien wird er den großen Bobby Moore als jüngsten englischen Kapitän bei einer Weltmeisterschaft ablösen.
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Von Sven Haist, Wolgograd

Im März gab Gareth Southgate ein Geheimnis preis. Der englische Nationaltrainer eröffnete seinem Spieler Harry Kane in einem Gespräch, dass er ihn bei der anstehenden Weltmeisterschaft in Russland zum Kapitän ernennen werde. Allerdings dürfe dies bis zur Kadernominierung zwei Monate später keinesfalls an die Öffentlichkeit dringen, mahnte Southgate, weil das Team und auch sonst niemand bisher Bescheid wisse. Für den Angreifer von Tottenham Hotspur folgte nun die finale Herausforderung: Seinem Kindheitstraum, Spielführer der Three Lions zu werden, standen nur noch die Boulevardblätter im Wege, die alles daran setzten, an diese Information zu kommen. Eine Weitergabe der frohen Botschaft hätte wohl umgehend zum Vertrauensbruch bei den Beteiligten geführt. Aber Kane hielt dicht - und erhält nun eine besondere Stellung in den Annalen des englischen Fußballs.

Beim ersten WM-Gruppenspiel gegen Tunesien an diesem Montag in Wolgograd wird Harry Kane, 24, den großen Bobby Moore als jüngsten englischen Kapitän bei einer Weltmeisterschaft ablösen - sofern ihm keine höhere Macht kurzfristig noch dazwischen grätscht. Bei der WM 1966 in England hatte Moore, der 1993 einem Krebsleiden erlag, das Mutterland des Fußballs zum bislang einzigen Titel geführt. Im Finale bereitete er mit einem genialen Zuspiel zum dreifachen Torschützen Geoff Hurst das 4:2 über Deutschland in der Verlängerung vor. Auf der Ehrentribüne des Wembley-Stadions nahm Moore dann die wichtigste Fußballtrophäe aus den Händen von Königin Elizabeth II. entgegen.

"Natürlich träume ich davon, auch den WM-Pokal hochzuhalten", sagt Kane, "es ist unmöglich, das nicht zu tun." Als Spielführer steht er in England jetzt in einer Reihe mit David Beckham, Stürmerlegende Alan Shearer und Torwartinspiration Peter Shilton. Bei fünf seiner bisher 24 Länderspiele durfte der derzeit bekannteste englische Fußballer die Kapitänsbinde tragen, es gelang ihm jeweils ein Tor, darunter das prestigeträchtige 2:2 in der WM-Qualifikation gegen Schottland vor einem Jahr.

Seit Southgate das Traineramt im Herbst 2016 übernahm, hat er sechs Kandidaten als Kapitän ausprobiert. Nach dem vorzeitigen Aus der alten Leitfigur Wayne Rooney und dessen Stellvertreter Joe Hart blieben Harry Kane, Eric Dier, Gary Cahill und Jordan Henderson übrig, die den Wettbewerb unter sich ausmachten. Für Cahill (FC Chelsea) und Henderson (FC Liverpool) sprach, dass sie die Position bei ihren jeweiligen Klubs schon bekleiden. Dier hingegen hatte sich durch sein Einfühlungsvermögen bei Tottenham um die Bedürfnisse der jungen Himmelsstürmer im Team verdient gemacht. Doch an Kanes Ausstrahlung im Weltfußball führte schließlich kein Weg vorbei: Wenn Kane vorangeht, folgen die anderen nach.

In der Vorwoche lief er nach dem Training auf die wartenden Fans zu - die Teamkollegen ließen umgehend alles stehen und liegen, um wie Kane Autogramme zu schreiben. Bei den Spurs nahm sich Kane mal zwei Stunden lang Zeit für die Anhänger. Sein Respekt anderen gegenüber und seine Führungsqualitäten machen ihn zu einer natürlichen Autorität. Nur am Saisonende stellte er seine Beliebtheit unnötig auf die Probe: Im Wettschießen mit Liverpools Mohamed Salah um die Torjägerkrone der Premier League beanspruchte Kane einen Treffer für sich, bei dem er den Ball, wenn überhaupt, nur touchierte. Die Liga schrieb das Tor auf ihn um - allerdings zeigte sich England irritiert über das eigennützigen Verhalten.

Die Wahl zum Kapitän bei seiner ersten WM bedeutet, dass er sowohl sportlich als auch menschlich als Vorbild dienen soll. In den vergangenen vier Spielzeiten hat sich Tottenham, ein besserer Mittelklasseklub, dank seiner Vorarbeit in der Spitzengruppe der Premier League etabliert - in 139 Ligaspielen schoss Kane 105 Tore. Jetzt soll der beste britische Torschütze der zurückliegenden vier Jahre auch für England zum Retter werden und die Fußballnation aus dem Sumpf der frustrierenden Darbietungen bei den vergangenen Großereignissen in glorreichere Gefilde führen.

Die Last der Erwartungen kennt Kane nicht nur aus den Erzählungen seiner Vorgänger, er hat sie vor zwei Jahren beim EM-Aus gegen Island im Achtelfinale selbst erlebt: In seinen vier Einsätzen 2016 gelang ihm kein Turniertreffer, daran erinnert ihn England gern bei jeder Gelegenheit. Ohne ein Auftakttor im Duell mit Tunesien wird dieser subtile Vorwurf zu seinem Missfallen wohl weitergetragen werden.

Für die Sturmmitte hat Englands Auswahl in Marcus Rashford (Manchester United) und Jamie Vardy (Leicester City) zwei geeignete Alternativen, aber an die Präsenz und Reaktionsschnelligkeit von Kane im gegnerischen Strafraum kommt keiner von beiden heran. Als Fixpunkt der Angriffsreihe ist er es gewohnt, sich mit mehreren Verteidigern herumplagen zu müssen. Seine 1,88 Meter und 89 Kilogramm verschaffen ihm die Wucht, den Ball so abzuschirmen, dass selbst schnellere Gegenspieler kaum ein Rezept finden, ihn zu stoppen. Sein Torabschluss erfolgt meist flach und hart, das ist zwar wenig spektakulär, dafür umso effektiver.

"Jeder spricht über die Tore, aber sein Arbeitspensum, seine Menschlichkeit und Aggressivität machen Harry so unglaublich", sagt Kollege Dier. In vorderster Position jagt Kane jedem Ball nach, und er rackert auch in der Defensive. Das macht ihn nun zum jüngsten WM-Kapitän der englischen Geschichte.

© SZ vom 18.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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