Hannover 96:Vorreiter oder Verräter

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Viele Ultras in Hannover gehen aus Protest gegen Präsident Kind nicht mehr ins Stadion. (Foto: Bongarts/Getty Images)

Muss Hannovers Präsident weg, weil er die Fans verrät? Oder ist Martin Kind ein Vorbild, weil er gegen Ultras vorgeht? Dieser Rosenkrieg zwischen Fans und Vereinsführung könnte für den gesamten Fußball gefährlich werden.

Kommentar von Claudio Catuogno

Man spürt das, wenn eine Beziehung nicht mehr zu retten ist. Wenn es einfach nichts mehr bringt, es noch mal miteinander zu versuchen. Sich zusammenraufen, noch mal einen Neuanfang wagen: Weißt du noch, damals, wie verliebt wir waren? Vielleicht sollten wir noch mal in dieses romantische Hotel nach Paris ... Vergebens. Aus und vorbei. Man versteht sich nicht mehr, man kennt sich nicht mehr. Und dann beginnt neben dem bösen Streit um Kleinigkeiten der nicht weniger böse Streit ums Grundsätzliche: Wem gehören die Kinder?

In der Beziehung zwischen den Ultras von Hannover 96 und dem Klub-Chef Martin Kind, 70, scheint dieser Zustand des Rosenkriegs inzwischen unumkehrbar zu sein.

Dass irgendjemand "raus" oder "weg" muss, das rufen die Fans in vielen Stadien, wenn es auf dem Rasen mal nicht läuft. Das gehört quasi zu den Ritualen der Fanliebe. Irgendwann läuft es dann wieder - und die bösen Worte sind vergessen. Oder es läuft so lange nicht, bis ein Neuer ins Spiel kommt. Neue Chance, neues Glück. Der Fan liebt ja gar nicht den Funktionär oder den Trainer, er liebt den Verein.

Aber was ist, wenn der geliebte Verein und der verhasste Funktionär einfach nicht mehr voneinander zu trennen sind?

Die Ultras sind aus Protest zur U23 übergelaufen

Der republikweit geschätzte Unternehmer Martin Kind hat nicht nur Hannover 96 aus der Regional- in die Bundesliga geführt, er hat im Hauptberuf auch einen Hörgeräte-Hersteller in die Weltspitze geführt. Man darf also annehmen, dass er die Rufe sehr genau hört, die nun schon die ganze Saison durch die Hannoveraner Arena hallen: "Kind muss weg! Kind muss weg!" Man hört sie ja auch deshalb so gut, weil sie inzwischen fast das Einzige sind, was bei 96 überhaupt noch zu hören ist - von den Gesängen der Gästefans mal abgesehen.

Die 96-Ultras, also jene Gruppe der meist jungen und kompromisslos fanatischen Anhänger, sind im vergangenen Sommer im Wortsinne ausgezogen. Ihre Fahnen und Lieder haben sie mitgenommen. Sie haben jetzt eine Neue, sie sind sozusagen mit der kleinen Schwester ihrer bisherigen Liebe zusammen: mit der U23. Die spielt im Ricklinger Beekestadion inzwischen vor mehr als 1000 Zuschauern statt wie früher vor 400. Die Profimannschaft von Hannover 96 ist die Gehörnte. Man sieht ihr an, dass sie unter der Trennung leidet.

Martin Kind führt Hannover 96 - mit einer kurzen Unterbrechung - seit 1997. Er führt den Klub ziemlich patriarchisch. Und man kann auch der Meinung sein, dass er ihn manchmal etwas ungeschickt führt. Er gibt das ja selbst zu: dass er immer dann, wenn er das Gefühl hat, seine Aufbauarbeit der vergangenen fast 20 Jahre sei bedroht, zu Panikhandlungen neigt. Ein paar Tage vor dem Spiel gegen den FC Bayern hat er ein Interview gegeben, das allgemein so verstanden wurde, dass der Trainer Tayfun Korkut kurz vor dem Rauswurf stehe. Ein paar Minuten vor dem Spiel klang das wieder etwas anders, da sagte Kind: "Er wird es schaffen mit der Mannschaft, ich habe volles Vertrauen." Ja, was denn nun?

Es ist das typische Rumgeeiere von Entscheidungsträgern in sportlichen Krisensituationen, auch beim Tabellenletzten VfB Stuttgart war das gerade zu besichtigen. Da vermied der Sportdirektor Robin Dutt erst tagelang auf fast Comedy-hafte Weise ein Bekenntnis zu seinem Trainer Huub Stevens - um ihm nach dem 0:0 am Freitag gegen Hertha BSC doch wieder den Rücken zu stärken. Vorerst.

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Bei Kind hat dieses Sprunghafte im Verhältnis zu seinen Trainer Methode. Den beleidigten Fans geht es aber natürlich um ganz was anderes: um sich selbst.

Der Umgang mit den Ultras ist überall in der Liga eine Gratwanderung. Die Klubs brauchen sie, wegen der Stimmung, aber sie fürchten die Begleiterscheinungen: Pyrotechnik, Ausschreitungen und einen fast institutionalisierten Hass auf die Polizei. Die Beziehung Klub/Ultras ist an vielen Standorten schwierig, beide Seiten sind immer wieder auf Dialog und Kompromisse angewiesen. Aber Martin Kind ist nicht der Typ für allzu viele Kompromisse. Er hat in verschiedenen Situationen eine klare Haltung an den Tag gelegt, er wollte sich nicht allzu sehr verbiegen zu lassen. Also hat es ein paar Mal Ärger gegeben. Es ging im Grunde um Nichtigkeiten wie die Frage, ob man die Ultras zwingen kann, in organisierten Bussen zu einem Auswärtsspiel zu fahren, nur weil die Polizei das so vorschlägt. Viele Beziehungen zerbrechen an Banalitäten, weil keine Seite das Gesicht verlieren will.

Vor dem Bayern-Spiel haben Kind und die Klubführung von Hannover 96 nun einen offenen Brief an die Fans veröffentlicht. Sie räumt darin Fehler ein - aber sie erwähnt die Ultras mit keinem Wort. Stattdessen steht da: Man sei sicher, dass sich neue Fangruppen finden würden. Es liest sich wie eine Kontaktanzeige. Es ist wohl der endgültige Bruch.

Für manche ist Martin Kind mit seiner klaren Haltung gegen Fangruppen, die von vielen als problematisch empfunden werden, ein Vorreiter. Für andere ist er ein Verräter. Das ist die Gefahr für den Fußball, die über das stille Stadion von Hannover 96 hinausweist. Dass es immer schwieriger wird, einen Mittelweg zwischen Vorreitern und Verrätern zu finden.

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