Hannover 96:Das magische Zweieck

Stuttgart Alexandru Maxim VfB Stuttgart Christian Schulz Hannover 96 VfB Stuttgart vs Hanno

Kommt ein Torschütze geflogen: Hannovers Retter in der Not, Christian Schulz (Schwarz), segelt über den Stuttgarter Alexandru Maxim hinweg.

(Foto: Eibner/imago)

Dem Regisseur Kiyotake und dem Torwart Zieler verdankt der Tabellenletzte Hannover seinen überraschenden Sieg in Stuttgart. Reicht es, im Abstiegskampf eine ganze Elf auf zwei Säulen zu erbauen?

Von Christof Kneer, Stuttgart

Christian Gentner ist 30 Jahre alt, er hat 312 Bundesliga-Spiele absolviert und war mit zwei verschiedenen Klubs deutscher Meister. In einer lauten und aufgeregten Branche ist der weit gereiste Kapitän des VfB Stuttgart so etwas wie die Stimme der Vernunft, nach Spielen sagt er meistens sehr souveräne Sachen, manchmal überlegt er sogar, bevor er antwortet. In den vergangenen Wochen hat Gentner nach den Spielen seines VfB etwas weniger überlegen müssen als sonst, er hatte einen schönen Satz gefunden, der Woche für Woche aufs Neue passte. Also, sagte Gentner unter verlässlicher Aktivierung desselben Gesichtsausdrucks, es würden schon auch wieder Spiele kommen, die man verliere. Er konnte diesen Satz sehr lange sagen, weil sein Verein tatsächlich vergessen zu haben schien, wie das funktioniert: verlieren. Dennoch war allen klar, dass es irgendwann wieder passieren würde, logisch, keine Frage, ist ja ganz normal. Absolutes Verständnis, wirklich.

Aber soooo? Zu Hause gegen Hannover?

Den Tabellenletzten? Auch das hätte Christian Gentner nach diesem 1:2 vielleicht sagen können: Manchmal ist Fußball so. Wenn ein Team, das gerade alles gewinnt, auf ein Team trifft, das gerade alles verliert, dann ist es nicht unwahrscheinlich, dass plötzlich die gewinnen, die sonst nie was gewinnen.

Man habe "den Bock umgestoßen", meinte Hannovers Abwehrspieler Christian Schulz später erleichtert, und dieser Satz des doppelten Torschützen implizierte die Hoffnung auf eine weitere unbegreifliche Gesetzmäßigkeit des Fußballs: dass einem Sieg, auf den man so lange warten musste, gerne mal weitere Siege folgen. "Wir haben zuletzt gut verfolgen können, wie erfolgreich der VfB gewesen ist", sagte denn auch Hannovers Trainer Thomas Schaaf, "und wir haben gesehen, wie sich der VfB aus einer bedrohlichen Situation befreit hat." Was er nicht sagte, aber meinte: Vielleicht machen wir das jetzt auch so.

Werner, Kostic, Rupp: Der VfB verschwendet seine Torchancen auf groteske Weise

Je nachdem, ob man eher mit optimistischem oder mit pessimistischem Naturell begabt ist, lassen sich aus Hannoveraner Sicht zwei unterschiedliche Schlüsse ziehen aus diesem kuriosen Erfolg. Pessimisten könnten anmerken, dass das Siegtor in der 83. Minute doch arg unvermittelt kam, dass der Sieg des Tabellenletzten nach dünner Vorstellung in der zweiten Hälfte keineswegs verdient war und dass nicht jeder Gegner seine Torchancen so grandios verschwendet wie der VfB. Den Stuttgartern gelang es für einen Nachmittag, die grotesken Abschlussschlampereien vom Saisonbeginn ziemlich detailgetreu nachzustellen. Timo Werner lenkte den Ball, von Filip Kostic spektakulär frei gespielt, am leeren Tor vorbei; Filip Kostic scheiterte, von Kevin Großkreutz spektakulär freigespielt, frei vor Torwart Ron-Robert Zieler; und Lukas Rupp zielte in der Schlussminute aus zentraler Lage an genau jene Stelle, an die Torwart Zieler am besten rankam.

Optimisten könnten hingegen - auch mit gewissem Recht - auf die sehr anständige Anfangsphase verweisen, als Schaafs Elf die Absenz der gesperrten bzw. verletzten Angreifer Hugo Almeida und Adam Szalai zu einer neuen, mittelstürmerlosen Spielweise nutzte, die ein paar hübsche Kombinationen hervorbrachte. Vor allem aber dürfen Optimisten ihre Hoffnungen an jenen Spieler knüpfen, dem dieser unerwartete Ausbruch an Fußball zu verdanken war: Der japanische Regisseur Hiroshi Kiyotake, nach langer Verletzungspause zurück im Team, kultivierte das Spiel der Elf vom ersten Ballkontakt an. "Mit seiner Ballsicherheit und seinen Ideen bringt er unser Spiel in Gang", sagte Schaaf, "und die anderen wachsen im Zusammenspiel mit ihm. Er kann die anderen mitnehmen, er gibt ihnen Sicherheit."

Kiyotakes Spiel war der Beweis für eine These, die man nicht so laut aussprechen sollte, weil sonst die netten Appelle aller Trainer an Teamwork und Mannschaftsgeist leider nicht mehr funktionieren: Manchmal reicht ein einziger, den Kollegen weit überlegener Sportler, um das Spiel einer ganzen Elf zu verändern. Kiyotake bekehrte seine Mitspieler, sie fingen plötzlich an zu glauben - an sich, ans Team und an den Sinn dieser ganzen anstrengenden Unternehmung. Und vor allem daran, dass bestimmt gleich wieder ein Freistoß angeflogen kommt, der so gefährlich ist wie bei anderen Teams ein Elfmeter.

Beide Tore wurden von Kiyotakes Freistößen angebahnt, beim ersten Tor traf Schulz per Kopf (32.), beim zweiten musste er den Fuß zu Hilfe nehmen, nachdem VfB-Torwart Przemyslaw Tyton zunächst noch abgewehrt hatte (83.). Es hatte eine gewisse Ironie, dass auch die mit reichlich Torchancen ausgestatteten Stuttgarter eine Standardsituation für ihr Tor brauchten; einen Freistoß von Alexandru Maxim lenkte Timo Werner per Kopf ins Netz (18.).

Die Hannoveraner haben nun fürs Erste wieder ein Stückchen Ufer in Sicht, aber ob sie noch näher rankommen, wird von einer entscheidenden Frage abhängen: Kann man eine ganze Elf dauerhaft auf nur zwei Säulen aufbauen? Hiroshi Kiyotake und Nationaltorwart Zieler bilden ein magisches Zweieck, aber auf die Kunststücke des dritten Leistungsträgers dieses Nachmittags sollten sich die Hannoveraner nicht unbedingt verlassen. Verteidiger Oliver Sorg klärte in Stuttgart zweimal auf der Linie.

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