Hannover besiegt den Tabellenführer:Bayern München kann noch verlieren

Drei Tore, zwei Platzverweise: Im dramatischsten Spiel der Saison unterliegt der Rekordmeister 1:2 bei Hannover 96. Die Bayern kassieren nach langer Zeit wieder einen Gegentreffer in der Bundesliga. Jérôme Boateng bekommt die rote Karte - nach der Partie poltern die Münchner gegen den Schiedsrichter und einen Spieler von Hannover.

Andreas Burkert, Hannover

Den letzten Schuss der Partie gab David Alaba ab, ein Freistoß aus fast 30 Metern, und die Münchner Fans schrien ihren Jubel bereits durch die Arena. Aber der Ball landete hinter dem Tor, und so ging das Spiel doch ohne eine letzte Volte zu Ende - und ohne gerechtes Ergebnis. Einen Sieger, besser gesagt einen Verlierer hatte dieses Spektakel nicht verdient, Hannover 96 und der FC Bayern boten im besten Liga-Spiel dieser Saison ein atemraubendes Duell mit vielen Torszenen, hohem Tempo und hitzigen Debatten. Diskussionsbedarf hatten hinterher jedoch nur die lange in Unterzahl leidenschaftlich kämpfenden Bayern, die 1:2 (0:1) verloren - und zudem Verteidiger Jérôme Boateng mit roter Karte.

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In der Luft gehangen: Bayern-Stürmer Thomas Müller (re.) konnte die Niederlage in Hannover nicht verhindern. 

(Foto: AFP)

Dessen als Tätlichkeit geahndete Unbeherrschtheit war die eine Schlüsselszene des Abends, die sich die Münchner selbst zuzuschreiben hatten. Die zweite war Philipp Lahms unnötiges Foul vor dem Elfmeter zum 0:1. Bayerns heile Welt ist somit in Hannover etwas eingetrübt worden, nach der zweiten Niederlage kommt tatsächlich so etwas wie Spannung auf in den oberen Tabellenetagen der Liga. Trainer Jupp Heynckes machte seiner Elf dessen ungeachtet "ein großes Kompliment. Wir hätten ein Unentschieden verdient gehabt. Heute bin ich mehr zufrieden mit meiner Mannschaft als nach manchem 5:0 oder 7:0." Doch auch Hannovers Leistung sei anzuerkennen, betonte er: "Das ist ein clever zusammengestelltes Team."

Bereits nach wenigen Minuten erhob sich Heynckes erstmals wütend von seinem Platz, allerdings erregte er sich nicht über seine Elf, die sicher den Ball laufen ließ. Heynckes' Problem war René Kunsleben, der vierte Unparteiische, der dem Trainer die Sicht versperrte. Heynckes schritt auf den Mann im schwarzen Trainingsanzug zu, er zeterte und gestikulierte: "Ich habe den vierten Offiziellen höflich gebeten, dass er doch bitte drei Meter zurückgehen solle", schilderte er die Szene, "aber das hat er nicht gemacht". Dass just dieser Mann später mit seiner Einschätzung den Ausschlag gab für Boatengs Platzverweis, kommentierte Heynckes säuerlich: "Er war heute der Protagonist. Er war ja schon vorher mit uns im Clinch."

Erstmals aufgeschreckt war der Trainer, als 96-Stürmer Abdellaoue auf Manuel Neuer zulief, Christian Pander hatte ihn mit einem Steilpass in den Rücken der Abwehr auf die Reise geschickt. Der norwegische Nationalspieler ließ sich auch nicht von Boateng abschütteln, guckte Keeper Neuer aus und schlenzte den Ball an den Außenpfosten (11.). Bayern inszenierte vor allem über Ribérys linke Seite Vorstöße. Nach einer Flanke des Franzosen forderte Mario Gomez mit einem Kopfball Hannovers Torwart Ron-Robert Zieler zu einem ersten großartigen Reflex heraus (14.). Es war nicht die letzte Begegnung der beiden Nationalspieler - stets zog Gomez den Kürzeren.

Lahms unnötiges Elfer-Foul

Die Bayern schnürten die auf Konter ausgelegten Gastgeber zunächst ein. Eine Einzelleistung des vor Selbstvertrauen strotzenden Toni Kroos hätte fast die Führung gebracht, der Münchner zog mit sagenhafter Schusstechnik ab - Latte (20.). Dass die Bayern wenig später die Kontrolle über das Spiel und ein wenig auch ihre Nerven verloren, lag am Elfmeter zum 0:1, den Referee Manuel Gräfe verhängte. Steven Cherundolo war im Strafraum an Philipp Lahm geraten, der Bayern-Kapitän stieg Hannovers Spielführer sehr ungeschickt in die Beine, worauf der Amerikaner zu Boden sank. Es war ein harter, aber korrekter Strafstoß, der Neuer - schwacher Trost - vom ewigen Rekordgerede befreite: Abdellaoue verwandelte zum 1:0 (23.), womit Bayerns Torwart erstmals seit 770 Ligaminuten wieder bezwungen war.

Es entwickelte sich nun erst recht ein hochinteressantes Duell der Systeme. Hier das auf Konter lauernde 96, das mit Rasanz das Mittelfeld überbrückte. Dort die zum Teil bestechend kombinierenden Bayern. Der angemessene Platzverweis gegen Boateng verschärfte die Ausgangslage noch, zu zehnt drängte der schwer beleidigte Tabellenführer giftig auf den Ausgleich, Ballkontrolle wurde durch Ballbeschleunigung ersetzt. Hannover gefiel naturgemäß diese Konstellation, es ergaben sich noch mehr Räume für Überfälle in Überzahl.

Die größte Chance hatten aber die Bayern nach Stafette über Schweinsteiger und Müller, der Gomez bediente, doch der kam einen Schritt zu spät (38.). Nach Wiederbeginn ging es im selben Tempo weiter - und für Gomez im selben Stil, Zieler vereitelte gegen ihn zwei weitere dicke Chancen. Gegenüber fiel das 2:0 (50.), und wieder konnten die Bayern ihr Unglück kaum fassen: Pander hatte aus 25 Metern abgezogen, Neuer segelte schon durch die Luft, doch der Ball sprang Kollege Luiz Gustavo an die Hacken und hoppelte abgefälscht über die Linie. Neuer purzelte wie ein angetrunkener Kartoffelkäfer hinterher: "Wenn du vorne die Dinger nicht machst, kriegst du hinten eins - und heute sogar noch ein zweites ekliges Tor", fasste Bayern-Angreifer Thomas Müller treffend zusammen. Wie schon beim 1:3 im Frühjahr in Hannover lief fast alles schief für die Bayern. "Diese Niederlage war sehr bitter", fand auch Sportdirektor Christian Nerlinger, "aber so etwas kommt vor."

Hannovers Cherundulo sah nach taktischem Foul an Ribéry die Ampelkarte (63.), die Bayern stemmten sich weiter gegen die Niederlage: "Die Mannschaft hat heute gezeigt, dass sie auch so ein Spiel annimmt", lobte Heynckes. Doch Slomkas Taktikschüler verteidigten das 2:1, weil der eingewechselte Alaba nur noch Bayerns Anschlusstor (83.) schaffte. Der mitreißend schuftende Bastian Schweinsteiger traf noch den Pfosten (88.), selbst Torwart Neuer stürmte am Ende mit - vergebens. Nach Alabas finalem Schuss war Schluss. Leider.

Die Szene, als Boateng Rot sah

Wer in der Schule im Chemieunterricht gepennt hat und nicht weiß, was eine kernige Kettenreaktion ist, für den gibt es fortan eine einleuchtende Nachhilfe: das Video des Bundesligaspiels Hannover gegen FC Bayern vom 23. Oktober 2011. Und darin besonders jene Szenerie aus Minute 28, die mit einem Foul begann, die zu einer Riesen-Rudelbildung führte, inklusive gelber (Hannovers Schulz) und roter Karte (Münchens Boateng). Von "einer emotionalen Situation, die passieren kann, aber nicht passieren sollte", sprach Hannovers Manager Jörg Schmadtke zur Pause noch relativ moderat: "Boateng hat da wohl etwas überemotional reagiert."

Am Ende der Kettenreaktion aber stand, na wer wohl? Uli Hoeneß. Hier seine finale Eruption im Wortlaut: "Pinto ist eine Schande, er hat das ganze Spiel mit seiner Schauspielerei durcheinander gebracht, wie der heute noch schlafen kann, möchte ich wissen. Tut so, als ob er schwer verletzt ist, und dann rennt er wieder wie ein Wiesel. Nicht zum ersten Mal, das ist ein Schauspieler, der gehört nach Los Angeles zur Oscar-Verleihung."

Doch der Reihe nach, denn auch Schmadtke wusste um die Schwierigkeit, über diese 28. Minute ein Urteil zu fällen: "Ich bin glücklicherweise kein Schiedsrichter, ich kann nur meckern."

Auslöser der Kettenreaktion war ein Zweikampf zwischen Rafinha und Pinto. Beide zählen zur Kategorie der nickeligen Spielertypen, und wenn gerade diese zwei Super-Nickel aufeinandertreffen, besteht Explosionsgefahr. Der Münchner Rafinha rauschte heran, stellte die Fußsohle schräg, Hannovers Pinto ward getroffen und flog durchs Gelände. War das schon kaum zu beurteilen, so wurde es sofort für Schiedsrichter Gräfe noch viel schwerer. Denn in der ersten Reaktion wurde Hannovers Arzt in dem sich millisekündlich vergrößernden Rudel verwehrt, zu dem sich wälzenden Pinto zu gelangen.

Und es wurde noch wilder: Kroos (FCB) schubste einen Betreuer (96), Schulz (96) schubste Kroos gegen Boateng (FCB), woraufhin Boateng Schulz mit langem Arm und flacher Hand auf die Brust schlug. Auf "Tätlichkeit!" von Boateng entschieden die Schiedsrichter nach ausführlicher Beratung. Schulz meinte später, es sei "eine Unsitte" der Bayern gewesen, den Arzt nicht sofort zu Pinto durchzulassen.

"Mit zweierlei Maß wurde gemessen", klagte hingegen Bayern-Trainer Heynckes: Wenn schon Rot, dann für beide, für Schulz und Boateng. Doch ein solcher Vorfall vollzieht sich blitzschnell, er ist ohne Videohilfe kaum noch klar zu sanktionieren. Allerdings hörte Gräfe, der dieses extrem schwer zu pfeifenden Duell ansonsten relativ sicher leitete, nicht auf all seine Tippgeber. Auch nicht auf Hannovers Trainer Slomka. "Nichts machen! Nichts machen! Weiterspielen!", habe er in Minute 28 gerufen, erzählte Slomka nach dem Sieg. Denn wer was tat, wer wen wie bedrohte, das sei gar nicht mehr aufzulösen gewesen. (SZ)

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