Hannes Reichelt gewinnt Abfahrt in Kitzbühel:Ein Mann erlöst ein Land

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Schnellster auf der Streif: Hannes Reichelt (Foto: Getty Images)

Dosenbier fliegt durch die Luft, die Nation jubelt: Hannes Reichelt gewinnt als erster Österreicher seit 2006 das prestigeträchtige Abfahrtsrennen auf der Streif. Nur einem US-Amerikaner bricht das fast das Herz.

Von Johannes Knuth, Kitzbühel

Der nächste Fahrer ist noch nicht aus dem Starthäuschen gekrochen, da knistert es bereits im Publikum im Zielraum. Sie wissen auch so, wer jetzt an der Reihe ist. "Hannes Reicheeelt!", krakeelt der Stadionsprecher. Wie auf Befehl kriecht Reichelt an die Startlinie. Er hält kurz inne. Reichelt weiß, dass er der letzte Österreicher ist, der heute gewinnen kann, er ist der Letzte, der den Zuschauern Hoffnung verleiht.

Dann fährt Hannes Reichelt los.

Was hatten sie in Österreich nicht alles an Statistiken herausgekramt vor diesem Abfahrtsrennen am Samstag in Kitzbühel: 2006 hatte in Michael Walchhofer zuletzt ein Österreicher auf der "Streif" triumphiert. 2006 also, oder wie die Salzburger Nachrichten ausgerechnet hatten: 2926 Tage.

Kitzbühel ist ja nicht irgendein Rennen, Kitzbühel ist eine Mini-Weltmeisterschaft im alpinen Skibetrieb, so sehen das zumindest die Österreicher. Und dann raste Hannes Reichelt aus Salzburg am Samstag tatsächlich als Erster ins Ziel, vor Aksel Lund Svindal (Norwegen/0,25 Sekunden zurück) und Bode Miller (USA/0,34). "Wunderschön", "hatte Tränen in den Augen", "Traum wahrgeworden", stammelte Reichelt. Was man so sagt, wenn man gerade ein Wintersportland befriedigt hat.

Der Sieg war auch deshalb besonders, weil er ein wenig unerwartet kam. Andere waren favorisiert gewesen, vor allem Svindal und Miller. Als Miller am Samstagmittag an die Ziellinie trat, wenige Minuten vor Reichelt, raunte das Stadion zum ersten Mal, diesmal aus Ehrfurcht, der 36-Jährige hatte zwei Tage zuvor im Training eine Zauberfahrt hingelegt.

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Mausefalle, Karussell, Steilhang, die Piste ruppig. Eine Wohlfühloase für Miller. Als ihn der Steilhang ausspuckte, lag der Amerikaner vorne, eine Dreiviertelsekunde. Im Ziel war es beinahe eine Sekunde, das Stadion stöhnte. Aber Miller fasste sich an den Helm, er hatte sich tatsächlich drei Fehler erlaubt, drei Fehler zu viel.

"Ich habe mich so beschissen gefühlt", würde er später sagen. Wieder hatte er monatelang auf dieses Rennen hingearbeitet, das er noch nie gewonnen hat. "Ich bin 36", sagte er, "wie oft bekomme ich noch so eine Chance? Das bricht mir fast das Herz."

Auch Svindal patzte, der bis dato beste Abfahrer des Winters, er verkantete seinen Innenski. Nach dem ersten Abschnitt lag er eine Sekunde hinter dem Amerikaner, er holte auf, er wusste um Millers Fehler. Plötzlich lag er nur noch zwei Zehntel zurück, ein Zehntel, die Ziellinie - Vorsprung, ein Zehntel! Svindal breitete beide Arme aus, als wolle er sagen: Seht her, an mir kommt heute keiner mehr vorbei.

Aber es kam ja noch Hannes Reichelt.

Vor dem Rennen hatte Reichelt über Rückenschmerzen geklagt, er hatte Schmerzmittel geschluckt, bis 15 Minuten vor seinem Start wusste er nicht, ob er fahren soll oder nicht. Reichelt fuhr dann doch, nach dem ersten Abschnitt lag er knapp vorne. Verhaltener Jubel im Publikum, Svindal war oben ja schwach gefahren. Nach dem Seidlalm-Sprung lag Reichelt noch immer vorne, knapp. Im letzten Hang - eine halbe Sekunde! Als Reichelt ins Ziel flog, brannten im Stadion bereits die Fackeln, Dosenbier flog durch die Luft. Der Rest war Freudentaumel in Rot-Weiß-Rot.

Alle mussten sie jetzt etwas sagen, die Teamkameraden, Svindal ("Reichelt war einfach besser"), die ehemaligen Kitzbühel-Sieger, Franz Klammer, Günther Mader, Stephan Eberharter. Bis zuletzt hatten sie alle als lebendiger Beweis dafür gedient, wie lange die Österreicher auf der Streif nicht gewonnen hatten. Diese Form der geschichtlichen Aufarbeitung war nun vorbei, entsprechend erleichtert sagte Eberharter, der Sieger von 2002 und 2004: "Wir sind uns im alle in die Arme gefallen."

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Reichelt versuchte gar nicht, die historische Komponente kleinzureden, er sagte: "Wenn du als Österreicher hier gewinnst, bist du eine Legende." 2006 hatte er sich zum ersten Mal auf die Streif gewagt, er wurde 18., im Ziel sagte er damals: "Gott sei Dank, ich lebe." Dass er den Hang nun als Bester bezwang ist auch das Resultat eines Reifeprozesses, vom Riesenslalom-Fachmann zum Speed-Experten, vom Abfahrer, der die Streif überlebt, zum Abfahrer, der sich in der österreichischen Ahnengalerie verewigt.

Den deutschen Fahrern waren derartige Gemütszustände am Samstag fremd. Josef Ferstl begann stark, doch zur Rennhalbzeit driftete er von der Ideallinie ab, "ein dummer Fehler, richtig bitter", sagte Ferstl, er wurde 40. Stefan Keppler konzentrierte sich bis zum Ende, er belegte Platz 15, sein bestes Resultat des Winters - es war ein versöhnliches Ende, mehr oder weniger. Die Trainer hatten ihn vor der Saison wegen mangelnder Perspektive aus dem Kader geworfen, Keppler hatte sich als Einzelkämpfer um die Olympia-Norm bemüht, umsonst. Vor dem Rennen hatte er angekündigt, die Abfahrt in Kitzbühel werde die letzte seiner Karriere sein.

Hannes Reichelt wurde derweil zum kommenden Rennen befragt, in zwei Wochen ermitteln sie in Sotschi ja noch ihren olympischen Champion. "Ich hoffe, ich habe mein Glück nicht aufgebraucht", sagte Reichelt. In der Abfahrt warten die Österreicher seit 2002 auf einen Olympiasieg.

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