Handball-WM in Deutschland:Sequenz eins: breite Brust

Die aggressive Spannung weicht einer beinahe heiteren Lockerheit: Die deutsche Handballmannschaft spielt teilweise wie in einem Rausch und besiegt Tunesien 35:28.

Christian Zaschke

Die Zuschauer zählten die letzten zehn Sekunden herunter, und als 12.000 Menschen schrien: ,,Eins'', warf der Tunesier Jaleleddine Touati mit Wucht auf das deutsche Tor.

Wenigstens den letzten Treffer zu werfen, das wäre ein versöhnliches Ende eines aus ihrer Sicht fürchterlichen Spiels für die Tunesier gewesen, doch der zweite deutsche Torhüter Johannes Bitter wehrte den Ball ab, und die Uhr mit der verbleibenden Spielzeit sprang auf 00:00. Darüber leuchtete, zusammengesetzt aus vielen kleinen Lichtpunkten, das Ergebnis: Deutschland - Tunesien 35:28 (19:11).

Damit haben die Deutschen auch ihr zweites Hauptrundenspiel auf überzeugende Weise gewonnen, und die Chancen aufs Erreichen des Viertelfinales stehen wieder sehr gut. Johannes Bitter war von dem Spiel so euphorisiert, dass er seine Schweißbänder von den Armen riss und ins Publikum warf; das war sehr nett gemeint, aber vielleicht war es doch ein bisschen gemein dem unwissenden Fänger gegenüber: Denn Torhüter sind gefürchtet, weil sie enorm viel schwitzen.

Bundestrainer Heiner Brand war nach der Partie äußerst zufrieden. ,,Ich muss der ganzen Mannschaft ein Kompliment machen'', sagte er, ,,vor allen Dingen nach dem kraftraubenden Spiel gegen Slowenien. Wir haben die Partie klar dominiert.'' Zur Erholung muss nun die Spielpause am Freitag reichen, bevor es am Samstag im vorletzten Hauptrundenspiel gegen Europameister Frankreich geht. ,,Wir erholen uns durchs positive Zusammensein'', sagte Torhüter Henning Fritz, der mit der Partie besonders zufrieden war, weil er zum ,,Spieler des Spiels'' gekürt worden war.

Zunächst hatten die Spieler eine Art Kulturschock erlebt, nämlich den Unterschied zwischen der engen, steilen Arena in Halle und der unermesslichen Weite der Westfalenhalle. Den Schock verdauten sie jedoch schnell, denn auch das Dortmunder Publikum entfachte eine Begeisterung, als sei Handball schon immer das Lieblingsspiel des ganzen Landes gewesen. Es versetzte sich selbst in einen kollektiven Rausch, der umgehend auf die Mannschaft übergriff.

Vor dem Spiel schlug Heiner Brand dem Tormann Fritz auf die Brust. Ihm folgte Johannes Bitter, auch er schlug Fritz auf die Brust, woraufhin Christian Schwarzer schnell Sebastian Preiß auf die Brust schlug. Das ganze wirkte wie eine Szene aus dem Lehrfilm ,,Aggressive Körpersprache'', Sequenz eins: breite Brust. Und die Spieler meinten das völlig ernst: Sie waren geladen.

Zwar gingen die Tunesier schnell 3:1 in Führung, aber das wirkte bald, als hätten die Deutschen ihren Gegnern ein Willkommensgeschenk überreicht, bevor sie dann dazu übergingen, sie nach allen Regeln der Kunst als Mannschaft zu zerlegen.

Aus dem 1:3 machten die Deutschen ein 7:3; Christian Zeitz setzte seinen linken Katapultarm effektiv ein, Markus Baur führte souverän Regie, und Henning Fritz wehrte zum Warmmachen einen Siebenmeter ab. Im Verlaufe des Spiels brachte er die tunesischen Schützen zur Verzweiflung, weil er so gut wurde, als habe er nie eine Krise gehabt. Eine Zeitlang machte er das, was im Handball nicht geht: Er hielt alles. Ob er erstmals seit langer Zeit wieder vollkommen zufrieden mit sich sei, wurde Fritz gefragt. Er antwortete schnell, und er sagte: ,,Ja.''

,,Ich halte jeden Ball, den du wirfst, jeden''

Bereits nach zehn Minuten nahm Tunesiens Trainer Sead Hasanefendic eine Auszeit. Er redete auf seine Mannschaft ein, doch an diesem Tag hätte er vermutlich sagen können, was immer er wollte: Der Gegner spielte zu gut. Die Deutschen agierten hochkonzentriert, sie waren im Angriff geduldig und standen sicher in der Abwehr.

Dort gelang es ihnen vor allen Dingen, den tunesischen Rückraumschützen Wissem Hmam fast vollständig aus dem Spiel zu nehmen. Das gelingt normalerweise keiner Mannschaft. ,,Diese Leistung der Abwehr war die Grundlage für unseren Sieg'', sagte Brand.

Es gab während der gesamten Partie keine Phase des Zweifels. Einmal verkürzten die Tunesier ihren Rückstand auf 8:11, doch die Deutschen antworteten mit drei Toren in Serie, und zur Halbzeit führten sie bereits 19:11. Unmittelbar vor dem Halbzeitpfiff hatte Fritz noch mit einem Reflex ein Gegentor verhindert. Solche Kleinigkeiten gelingen in den Spielen, in denen alles passt. Fritz ging dem Schützen dann noch ein Weile hinterher, er hatte die Fäuste im Jubel erhoben, und alles an ihm sagte: ,,Ich halte jeden Ball, den du wirfst, jeden.''

In der zweiten Halbzeit hatte die Mannschaft dann Spaß an der Partie. Manchmal lächelten die Spieler einander an, die aggressive Spannung war nun einer beinahe heiteren Lockerheit gewichen. Nach und nach nahm Brand die Stammspieler vom Parkett.

Die zweite Reihe sollte Spielpraxis sammeln, und es war zu sehen, dass es im Angriff recht rund weiterlief, dass in der Abwehr jedoch zwischen erster und zweiter Besetzung ein Klassenunterschied besteht. Brand sagte: ,,Über die letzten 20 Minuten rede ich lieber nicht.'' Er mag es, wenn bis zum Ende wirklich alles passt.

Nun müssen die Deutschen in der Analyse versuchen einzuordnen, was sie da geschafft haben. Tunesien war Vierter der vergangenen WM und diesmal der Geheimfavorit von Heiner Brand. Beim World Cup im Oktober war das Team Zweiter. Gegen die Deutschen hatte es am Donnerstag nicht den Hauch einer Chance.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: