Handball-WM:Der EM-Held sitzt auf der Bank

Handball WM - Deutschland - Ungarn

Silvio Heinevetter und Andreas Wolff (l.): Einer war gegen Ungarn der Wasserreicher, der andere stand im Tor

(Foto: Marijan Murat/dpa)

Von Joachim Mölter, Rouen

Silvio Heinevetter stand am Samstag in der Lobby des Teamhotels und versicherte, es sei egal, wer bei den deutschen Handballern das Tor hüte: "Das ist uninteressant, wirklich!" Am anderen Ende des Raums stand Andreas Wolff und widerlegte diese Behauptung mit allem, was er hatte, außer mit Worten. Die klangen schön brav nach Friede, Freude, Harmonie, aber Gesichtsausdruck und Körpersprache des Keepers aus Kiel verrieten, wie sehr es ihn bewegte, dass nicht er das deutsche Tor hatte hüten dürfen beim 27:23 (16:11) über Ungarn am Abend zuvor, sondern eben der Kollege Heinevetter aus Berlin.

Der hatte im Auftaktspiel der deutschen Handballer bei der WM in Frankreich dann auch noch so großartig gehalten, dass ihn der Bundestrainer Dagur Sigurdsson die gesamten 60 Minuten zwischen den Pfosten beließ - und Wolff in den Spielunterbrechungen nur das Handtuch reichen durfte, mit dem sich Heinevetter den Schweiß abtupfte. "Warum sollte mich das anstacheln?", fragte der ehrgeizige Wolff in einem Ton, dem zu entnehmen war, wie sehr ihn die Leistung des Konkurrenten beim nächsten Training anstacheln wird.

Da der gelassene Heinevetter, dort der angespannte Wolff - zwischen den beiden könnte man Konfliktpotential für den weiteren Verlauf des noch zwei Wochen dauernden Turniers sehen. Doch Silvio Heinevetter beruhigt: "Wir sind beide speziell, keine Frage, aber zwischen uns ist alles paletti." Eine klare Rollenverteilung gebe es sowieso nicht, nicht zwischen den Torleuten, erst recht nicht in der restlichen Mannschaft.

Bundestrainer Sigurdsson setzt traditionell auf eine flache Hierarchie

Das ist ja das Konzept von Bundestrainer Dagur Sigurdsson, mit dem er die Auswahl des Deutschen Handballbundes (DHB) im vorigen Jahr zum EM-Titel und zu Olympia-Bronze geführt hat. Er pflegt das, was man in der Managersprache eine flache Hierarchie nennt. "Es ist nicht wie im Fußball, dass du eine klare Nummer eins im Tor haben musst oder auf Halbrechts", erklärt der Isländer. Er entscheidet von Fall zu Fall, von Gegner zu Gegner, gelegentlich auch nach Gefühl, wen er zu Beginn aufs Feld schickt. Und er nimmt keine Rücksicht auf vergangene Verdienste.

Das bekamen am Freitagabend in der Kindarena von Rouen selbst die EM-Helden Andreas Wolff und Tobias Reichmann zu spüren, der Torwart und der beste Torjäger der Titelträger von 2016. Die waren auch bei Olympia in Rio noch großer Rückhalt des DHB-Teams, saßen gegen Ungarn aber nur auf der Bank. Das kann sich im nächsten Spiel, am Sonntag gegen den Außenseiter Chile (14.45 Uhr/live auf handball.dkb.de), allerdings wieder ändern. "Wir haben schon früher gesehen, dass jeden Tag ein neuer Held kommt", erinnerte Sigurdsson, "das wird in diesem Turnier wieder der Fall sein."

"Wir können ausgewogen spielen"

Der Bundestrainer weiß, dass er im Notfall auch mal einen seiner Helden ersetzen muss, den Kapitän Uwe Gensheimer, 30, zum Beispiel. Der Linksaußen von Paris St. Germain erzielte gegen Ungarn 13 Tore und verwandelte dabei nervenstark alle acht Siebenmeter, die die Mannschaft zugesprochen bekam. Dass Gensheimer trotz des plötzlichen Todes seines Vaters am vergangenen Sonntag überhaupt mitmacht bei der WM, hat ihm uneingeschränkten Respekt und größte Bewunderung seiner Teamkollegen eingebracht. Er wird im Laufe der nächsten Woche zur Beerdigung nach Hause fahren, Sigurdsson muss also womöglich in den Vorrundenpartien am Dienstag gegen Saudi-Arabien und/oder am Mittwoch gegen Weißrussland (jeweils 17.45 Uhr) auf ihn verzichten.

"Viele Mannschaften haben Spieler, von denen sie abhängig sind", sagt Paul Drux, der junge Rückraumspieler von den Füchsen Berlin, in Anspielung auf den Franzosen Nikola Karabatic, den Dänen Mikkel Hansen, den Kroaten Domagoj Duvnjak, alles unbestrittene Leitfiguren ihrer Länder. "Bei uns ist das nicht so: Wir können ausgewogen spielen." Oder unberechenbar, um es mit einem anderen Wort zu sagen.

Es gibt auch unauffällige Helden

Gegen die starke Defensive der Ungarn kamen Drux und seine Nebenleute im Rückraum beispielsweise kaum zum Wurf. Aber "im Fußball müssen die Stürmer ja auch nicht immer Tore machen, um gut gespielt zu haben", vergleicht Sigurdsson und verweist darauf, dass die meisten Tore seines Teams über Außen oder per Siebenmeter gefallen seien: "Irgendwo müssen die Außen die Pässe ja herbekommen haben, irgendjemand muss die Siebenmeter herausgeholt haben." In diesem Fall waren Drux und Co. eher unauffällige Helden des Auftaktspiels.

Genauso wie die Stützen der Abwehr, die Sigurdsson ebenfalls munter austauscht, je nach Situation. Im Innenblock begannen der massige Patrick Wiencek und der lange Finn Lemke, "aber wir spielen auch mit Jannik Kohlbacher und Julius Kühn, weil sie sich gut ergänzen", sagt der Cheftrainer. Und die jungen Simon Ernst und Paul Drux bekamen gegen Ungarn auch ihre Einsätze in der Defensive. Es soll sich bloß keiner seiner Sache zu sicher sein, das ist die Botschaft des Bundestrainers. "Es ist so geplant", verrät er, "dass wir Balance in der Mannschaft haben." Und da schwingt halt auch bei EM-Helden das Pendel mal nach unten.

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