Tim Ganz wählte die freche Version. Vor ihm im Tor stand Sławomir Szmal, von dem so mancher Handballer nachts schlecht träumt, er ist Champions-League-Sieger und war einst Welthandballer des Jahres. Ganz ist 21 Jahre alt und spielt in der dritten Liga. Als er in der 28. Minute Szmal beim Siebenmeter gegenüberstand, machte er Folgendes: Er wackelte mit dem Handgelenk und schob den Ball schließlich per Heber über den Polen. Wer schon mit 7:20 zurückliegt, kann ja auch mal was Freches ausprobieren.
Was sich an diesem Nachmittag im polnischen Kielce und dem 970 Kilometer entfernten Kiel abspielte, war bisher einzigartig in der deutschen Handball-Geschichte: Mit den Rhein-Neckar Löwen trat ein Verein beinahe gleichzeitig in Champions League und Bundesliga an, weil es im Terminstreit zwischen Bundesliga und dem europäischen Handball-Verband EHF zur Eskalation gekommen war.
Terminchaos im Handball:"Unglaublich unprofessionell"
Der Terminstreit im Handball eskaliert. Nun sollen der THW Kiel und die Rhein-Neckar Löwen zwei wichtige Spiele binnen 24 Stunden austragen. Dabei geht es um Macht und Einschaltquoten.
Als in Kielce das Achtelfinal-Hinspiel der Rhein-Neckar Löwen mit einer 17:41-Niederlage für die Deutschen endete, liefen sich in Kiel die anderen Rhein-Neckar Löwen gerade warm. Da das Beamen noch nicht erfunden ist, kann natürlich kein Verein um 16 Uhr in Polen und um 18.10 Uhr in Deutschland antreten, weshalb die "Junglöwen" (so wird die 2. Mannschaft genannt) in den Wettbewerb geschickt wurden, von dem sich der Verein weniger Erfolgschancen erwartet hatte: der Champions League. Die älteren Löwen sind schließlich Deutscher Meister und würden ihren Titel in der Bundesliga als derzeitiger Tabellenführer gerne verteidigen.
Während die Junglöwen in Kielce schon frisch geduscht den nächsten Fernseher aufsuchen konnten, spielten die Profis gegen den THW Kiel um wichtige Punkte. Was dann aber nicht so klappte wie erhofft: Gegen Kiel gab es eine 22:27-Niederlage, nach der Rückraumspieler Andy Schmid sagte: "Das war ein Scheiß-Tag für uns, ein Scheiß-Tag für den Verein und ein Scheiß-Tag für den Handball. Wir sind jetzt die kompletten Idioten. Dieser Tag wird nicht in die positive Geschichte des Klubs eingehen."
Live-Übertragungen in den öffentlich-rechtlichen Sendern sind eine Seltenheit
Für einen Drittliga-Handballer kann es ja ganz erbaulich sein, ein Champions-League-Spiel in seiner Statistik stehen zu haben. Die Champions-League-Hymne zu hören, vor 4000 statt wenigen Hundert Zuschauern zu spielen. "Das war ein richtig geiles Erlebnis, auch wenn es blöd ist für die Löwen", meinte etwa Lars Röller, als er schwitzend am Sky-Mikrofon stand, er schwitzte und tropfte so sehr, als müsste er damit nochmal unterstreichen, wie sehr sie sich angestrengt hatten. "Gegen Abwehrspieler zu spielen, die Champions-League-Sieger sind, das war absolut geil", sagte Röller, der drei Tore beisteuern konnte. Sie waren ja überragend gestartet, nach 14 Minuten lagen die Löwen nur mit vier Toren zurück. "Das war brutal, wie die Fans hier mitgehen, das habe ich so noch nie erlebt", sagte Rico Keller, mit fünf Treffern erfolgreichster Löwe, "das ist ein Riesen-Highlight in einer Karriere".
"Die Jungs können stolz sein. Sie haben sich so gut verkauft wie sie konnten. Dass sie nicht mit zehn Toren verlieren, war uns auch klar", sagte Sportchef Oliver Roggisch in Kiel am Sky-Mikrofon. Als um 18.10 Uhr schließlich das Bundesliga-Spiel gegen Kiel begann, übertrug die ARD live, was für einen Handballverein im Fußballland eine Seltenheit ist. Nur einmal zuvor hatte es eine Live-Übertragung in einem öffentlich-rechtlichen Programm gegeben - eine große Chance also, Werbung für sich zu machen. Und auch ein Hauptgrund für den Terminstreit, den Sendeplatz an einem fußballfreien Wochenende wollte man ungern verlieren.
Doch schon nach 17 Minuten lag das Team mit 3:9 zurück, was dann nicht nach Meisterschaft, sondern nach einem vermaledeiten Tag roch. Der Tabellensechste Kiel spielte schnell und mit Präzision, hatte zudem in Niklas Landin den besseren Torwart. Nach 22 Minuten sah es mit 4:12 noch düsterer aus, zur Halbzeit blieb es dann tatsächlich bei acht Toren Rückstand (9:17). Auch wenn die zweite Hälfte eine deutliche Steigerung war, Hendrik Pekeler am Kreis immer besser in die Partie fand und Torhüter Mikael Appelgren nun einige Bälle hielt, verlor das Team verdient.
In der Tabelle ist der Vorsprung auf die Füchse Berlin nun auf zwei Punkte geschrumpft, auch Flensburg-Handewitt liegt mit dem gleichen Abstand dahinter, hat aber schon ein Spiel mehr absolviert. "Es ist nicht so, dass wir als Verein sagen, wir möchten keine Champions League spielen, das war ein Riesen-Hickhack", sagte Schmid. Es lag ja der Gedanke in der Luft: Wenn man in der Bundesliga verliert, hätte man dann nicht in der Champions League noch kämpfen können? Hatte sich der Noch-Deutsche-Meister verpokert? "Klar kann man sagen: Wenn man zweimal verliert, hätte man es vielleicht anders machen können", sagte Löwen-Trainer Nikolaj Jacobsen. Aber sein Fazit des Tages hatte ein ganz anderes Ziel: "Ich wünsche mir einfach, dass man künftig wieder mehr auf die Akteure hört und weniger auf die hohen Herren."