Handball:Irgendwie gemein

Rio 2016 - Handball

Die einen feiern, die andern trauern: Deutschland unterlag Frankreich im Handball-Halbfinale in letzter Sekunde.

(Foto: Lukas Schulze//dpa)

Nach dem Halbfinale fühlen sich die deutschen Spieler zunächst als Opfer einer höheren Ungerechtigkeit. Jetzt gilt es, sich schnell zu sammeln, um wenigstens Bronze zu gewinnen.

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

Sprachlos saß Dagur Sigurdsson da. Einige Minuten lang. Still war es trotzdem nicht im Kabinentrakt der Future Arena von Rio. Im Hintergrund waren die Schreie und Gesänge einer tosenden Party zu hören. Es feierten die Franzosen. Nachdem er sich das ein Weile angehört und alles weitere reiflich überlegt hatte, sagte der Trainer der deutschen Handball-Nationalmannschaft aber doch noch was: "Das Leben geht weiter."

Wenn man diesen Satz hört, dann ist meistens etwas Schlimmes passiert. Und es stimmt ja auch, die Art und Weise wie die deutschen Handballer gegen Frankreich verloren hatten, das war irgendwie schlimm, irgendwie gemein. Aber natürlich auch unfassbar packend. In den letzten 60 Sekunden dieses Halbfinales von Rio, diesem 28:29 aus deutscher Sicht, konnte jeder sehen, fühlen und hören, weshalb Handball eines der besten Spiele der Welt ist. Der komprimierte Wahnsinn.

Für Sigurdssons junge Europameister, das ist zunächst einmal die tröstliche Botschaft, geht jetzt nicht nur das Leben weiter, sondern auch dieses Turnier - am Sonntag (15.30 Uhr MESZ) im Spiel um Bronze gegen Polen (das seinerseits erst nach Verlängerung 28:29 gegen Dänemark unterlag). Es wäre die erste olympische Medaille für Deutschlands Handballer seit dem Silbergewinn 2004 in Athen. Die Franzosen wiederum haben im anschließenden Finale gegen die Dänen die Gelegenheit, sich ihren dritten Olympiasieg in Serie zu sichern. Wenn das klappen sollte, dann wird die Kabinensause vermutlich noch ein bisschen lauter als am Freitagabend.

Zeitweise gelingt den Deutschen nichts

Als sich Sigurdsson wieder ein wenig gefasst hatte, sagte er ist seinem bezaubernden Isländisch-Deutsch: "Wenn es eine Übermannschaft gab in den letzten zehn Jahren, dann sind es diese Franzosen. Man muss sich nicht schämen, wenn man gegen die in einem Halbfinale mit einem Tor verliert." Gewiss nicht. Weh tat es trotzdem. 29:28 stand es am Ende für diese Französen. Drei Sekunden davor hatte es noch 28:28 gestanden.

Es war ein Krimi, der spät in Fahrt kam, aber dafür umso hinten raus umso erstaunlichere Volten bereithielt. Über weite Strecken wirkten die Deutschen überfordert mit ihrem Gegner, zeitweise gelang gar nichts, kein Block, keine Torwartparade, kein Tempogegenstoß. Als dann nach 40 Minuten selbst Frankreichs Torhüter Thierry Omeyer ins deutsche Tor traf, schien das Spiel endgültig entschieden zu sein. Sieben Tore Differenz wies die Anzeigetafel in diesem Moment aus.

Plötzlich gelingt den Deutschen alles - fast alles

Die erste Volte war eine beherzte Aufholjagd, mit der fast niemand mehr gerechnet hatte. Einige Zuschauer waren schon am Einpacken, als den Deutschen plötzlich alles gelang - und ihren Gegnern gar nichts mehr. Es wurde tatsächlich nochmal spannend. Eine Minute vor Schluss glich der in der Schlussphase besonders starke Rechtsaußen Tobias Reichmann aus, zum ersten Mal überhaupt in dieser Partie.

Jetzt begann das Spiel mit der Uhr. Das beherrschen diese routinierten Franzosen meisterhaft, wie sich zeigte. Sie ließen die Sekunden verstreichen, blieben in Ballbesitz und setzten alles auf den letzten Wurfversuch. Bei neun Sekunden wurde die Uhr zum letzten Mal angehalten. Da war klar, dass die Deutschen keine Chance mehr für einen eigenen Angriff bekommen würden. Neun Sekunden lang ging es für sie einzig und alleine darum, diesen letzten Wurf zu verhindern. Das wäre zumindest die Rettung in die Verlängerung gewesen.

Der Koloss Narcisse tankt sich durch

Dirigiert von Kapitän Nikola Karabatic nahm sich Frankreich in diesen Sekunden noch die Zeit für vier Zuspiele, einmal ganz nach links und wieder zurück durch die Mitte bis auf Halbrechts. Das dauerte etwa sechs Sekunden. Dann tankte sich der Koloss Daniel Narcisse mit einem letzten Kraftakt zum Kreis durch. Er warf. Und traf. Mit der Schlusssirene zappelte der Ball links unten im Netz. Die Franzosen fielen sich um den Hals, die Deutschen zu Boden. Aus der Traum von Gold. Tatsächlich mit dem letzten Handstreich.

Noch etwas berauscht von ihrer mitreißenden Aufholjagd fühlten sich die deutschen Spieler zunächst als Opfer einer höheren Ungerechtigkeit. Der Gummersbacher Julian Kühn fand: "Wir hätten die Verlängerung allemal verdient gehabt". Der Berliner Paul Drux sagte: "Heute hat jeder gespielt, als ob es das letzte Spiel gewesen wäre." Bob Hanning, der Leistungssportdirektor und Chef-Reformer des Deutschen Handball-Bundes, sah alles wie immer ein bisschen anders. "Diese Niederlage ist verdient", verfügte er mit väterlicher Strenge. "Wenn du gegen diese Franzosen gewinnen willst, musst du zu hundert Prozent am Limit spielen. Zwanzig gute Minuten sind zu wenig."

Hanning sagte, es gehe jetzt darum, aus den Fehlern vom Freitag für das Bronzespiel am Sonntag zu lernen. Geärgert hatte er sich unter anderem darüber: "Immer wenn wir in diesem Spiel ein Momentum hatten, haben wir es nicht genutzt." Damit spielte er auch auf den überragenden Linksaußen Uwe Gensheimer an, der insgesamt elf Treffer erzielte, aber im vielleicht entscheidenden Augenblick aus bester Position an Frankreichs ewig jungem Torwart-Oldie Thierry Omeyer scheiterte.

Auch Frankreichs Trainer Onesta ist gezeichnet

Symbolhaft für den Showdown in diesem Handballkrimi stand das blaue Veilchen unterm Auge von Karabatic. "Die letzten zehn Minuten waren wirklich hart, ich bin so müde", sagte der einstige Profi vom THW Kiel. Auch an Frankreichs Trainer Claude Onesta war dieses Spiel nicht spurlos vorbeigegangen. Reichlich zerfleddert trat er vor die Presse, sein Hemd war komplett zerrissen, die Lesebrille, die sonst adrett am Kragen steckt, baumelte an seinem Goldkettchen. "Immer diese Mädchen", scherzte Onesta. Es waren natürlich seine Jungs, die ihn in der Jubeltraube so zugerichtet hatten.

Am Ende siegte vielleicht auch die französische Reife über die deutsche Jugendlichkeit. Ein, zwei entscheidende Paraden von Omeyer, 39. Ein schlauer Pass und ein bisschen Zeitverzögerung von Karabatic, 32. Der letzte Wurf von Narcisse, 36. Trainer Claude Onesta sagte: "Man kann solche Turniere nicht nur mit Erfahrung gewinnen, aber die Erfahrenen entscheiden solche Spiele."

Auch Sigurdsson erklärte die entscheidenden Millisekunden dieses Spiels mit dem Erfahrungsvorsprung der französischen Schlüsselspieler. Andererseits konnte sich der DHB-Coach auch bisschen darüber freuen, dass er mit seiner "hungrigen Truppe" diesen hochdekorierten Recken am Ende noch einmal einen gewaltigen Schrecken eingejagt hatte. Nach diesem Turnier steht bei den Franzosen der große Generationswechsel an. Den haben die Deutschen gerade hinter sich, und sie sind - wie sich auch in diesem Halbfinale zeigte - trotzdem schon wieder in der Weltspitze konkurrenzfähig. Egal, was am Sonntag beim Spiel um Bronze herauskommt, der deutsche Handball stand schon mit schlechteren Perspektiven da.

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