Handball:Handballer fühlen sich sabotiert

Rio 2016 - Handball

Hat plötzlich viel mehr Arbeit: Kiels Nationaltorwart Andreas Wolff.

(Foto: Marijan Murat/dpa)

Greift die neue Offensivregel den Charakter der ganzen Sportart an? Viele Handballer sind wütend. Sie klagen: Handballspiele sind einfach nicht mehr attraktiv.

Von Carsten Scheele

Daniel Stephan erinnert sich gut an die große Revolution im Handball. Der einstige Nationalspieler spielte beim TBV Lemgo, als die Regelhüter zur Saison 2002/03 die "schnelle Mitte" erfanden. Musste zuvor die komplette Mannschaft nach einem Gegentor zum Wiederanpfiff an der Mittellinie erscheinen, genügte fortan ihr schnellster Spieler. Berührte dieser mit dem Fuß die Mittellinie, mit dem Ball in der Hand, wurde die Partie sofort freigegeben, und schon lief der schnellen Gegenstoß. Die Zahl der direkten Gegentore stieg rapide, Handballmatches endeten plötzlich nicht mehr 20:18, sondern 34:31.

"Wir waren zunächst skeptisch", erinnert sich Stephan, doch die Mannschaft des "Welthandballers von 1998" hatte damals Volker Mudrow zum Trainer, und der verordnete seinem Team das konsequente Ausnutzen der "schnellen Mitte". Das Ergebnis: Lemgo überrumpelte die anderen Bundesligateams derart, dass der TBV deutscher Meister wurde. Nicht nur, aber auch wegen der Regelmodifikation.

Die "schnelle Mitte" gehört heute zum taktischen Standardrepertoire, sie macht das Spiel attraktiver - und darin liegt der wesentliche Unterschied zu den Zuständen, die derzeit in der Bundesliga herrschen.

Wieder eine Revolution - diesmal weniger erfolgreich

Wieder ist versucht worden, eine Revolution zu starten, zahlreiche kleine Regeländerungen wurden formuliert, von denen besonders eine ins Gewicht fällt: So ist es den Erwachsenenteams seit Juli weltweit erlaubt, den Torwart im Angriff gegen einen siebten Feldspieler einzutauschen, um so eine Überzahlsituation zu schaffen. Und zwar gegen einen beliebigen Feldspieler, er muss kein farbiges Leibchen mehr tragen, wie in all den Jahren zuvor. Kehrt der Torwart zurück, kann jeder x-beliebige Mitspieler weichen.

Die Trainer machen von der neuen Flexibilität regen Gebrauch, und so gilt die Zahlenlehre des Hallenhandballs, wonach sich sechs Angreifer und sechs Abwehrspieler gegenüberstehen, plötzlich nicht mehr. "Da vergeht einem der Spaß", sagt Daniel Stephan. Das Spiel mit der neuen Regel sei "einfach unattraktiv", ja: ein "Irrsinn."

Geschehen doch wilde Dinge, die mit Handball nur wenig zu tun haben. Greift ein Team mit sieben Spielern an, ist das eigene Tor folglich verwaist; und geht dieser Angriff dann schief, ist es das einfachste Mittel für den Gegner, den Ball lang und weit ins leere Tor zu werfen. "Fernzielwerfen" nennt dies abschätzig Stefan Kretzschmar, ebenfalls früherer Weltklassespieler. Beim Spiel gegen Stuttgart erzielten die Rhein-Neckar Löwen kürzlich neun ihrer 35 Tore auf diese Weise, der THW Kiel traf gegen den Bergischen HC sogar elfmal ins leere Tor. Andreas Wolff war nach 23 Minuten der beste Torschütze seiner Mannschaft, weil er den Ball dreimal lang und weit in den Kasten hatte segeln lassen - er ist Kiels Nationaltorhüter.

"Sabotage an unserer Sportart"

Wer sich umhört, dem fällt auf, dass kaum einer dieser Regel Positives abgewinnen kann. Die Idee der Kommission des Handballweltverbands (IHF) um den stets umstrittenen Präsidenten Hassan Moustafa sei "Sabotage an unserer Sportart", poltert der Kieler Trainer Alfreð Gíslason. Natürlich versuche man, sich auf die neuen Herausforderungen einzustellen, aber seine Mannschaft fahre pro Halbzeit zehn Angriffe weniger, weil es so lange dauere, bis sich die Spieler im Wechselwirrwarr sortiert hätten. Viele Trainer setzen den zusätzlichen Angreifer als zweiten Kreisläufer ein, wodurch die Räume noch enger werden. Der Ball wird hin und her geschoben, bis sich doch eine Lücke auftut. Die für den Handball charakteristischen Eins-gegen-eins-Situationen werden seltener.

Auch die Torhüter beschweren sich, dass sie sich kaum auf ihren Job konzentrieren können, weil sie damit beschäftigt sind, vom Tor auf die Bank und zurück zu sprinten. Die ständigen Weitwurftore können sie trotzdem fast nie verhindern. "Mit dieser Regel hast du 90 Prozent der Taktik gelöscht", behauptet Gislason. Der Sportliche Leiter des Bergischen HC, Viktor Szilágyi, pflichtet ihm bei: Er kenne keinen Spieler, der die neue Regel mag.

Dabei gibt es auch Trainer, die versuchen, vorurteilsfrei an die Veränderung heranzugehen. Markus Baur, Weltmeister 2007, heute Trainer des TVB Stuttgart, rechnet vor, dass sein Team durch den siebten Feldspieler "50 bis 60 Prozent effektiver" spiele, die Angriffe also erfolgreicher abschließe. Der siebte Mann sei ein "probates taktisches Mittel" gegen übermächtige Gegner, findet Baur, auch wenn die Bälle ins leere Tor "natürlich blöd" aussähen. Doch diesmal scheint es nicht so zu sein, als werde sich die Regelrevolution durchsetzen. Bei der Handball-Bundesliga (HBL) haben sie sich darauf verständigt, ein halbes Jahr vergehen zu lassen, ehe ein Urteil gefällt wird. Im Januar wäre es also Zeit für eine kaum positive Bilanz. Daniel Stephan hofft: "Vielleicht wird die Regel einfach wieder abgeschafft."

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