Handball:Gefangen in der Größe des Augenblicks

Nach etlichen vergeblichen Anläufen gewinnen die Rhein-Neckar Löwen erstmals die deutsche Meisterschaft.

Von Michael Wilkening, Lübbecke

Während auf dem Spielfeld alle Dämme brachen, Kapitän Uwe Gensheimer Tränen der Rührung vergoss und von glückseligen Mitspielern und Fans immer wieder umarmt wurde, hing in der Umkleidekabine der Rhein-Neckar Löwen unbeachtet ein Plakat. Gensheimer hatte es einen Tag zuvor im Trainingszentrum in Kronau vorsichtig von der Wand genommen und mit nach Lübbecke gebracht, um es beim Betreten der dortigen Merkur-Arena für die Kollegen und sich gut sichtbar im Umkleidetrakt anzubringen. Auf dem Flipchart-Bogen ist eine Meisterschale aufgemalt, die Spieler der Löwen sind gekennzeichnet, ein Kreis umschließt beides - und außen sind die so titulierten "Parasiten" aufgemalt: die herkömmlichen Medien, die neuen sozialen Medien, Gegner auf dem Spielfeld, Titelkonkurrenten, Zuschauer, Schiedsrichter. Vor ihnen allen galt es sich zu schützen, damit der Traum vom Gewinn der Meisterschale wahr wird.

Jahrelang sind die Löwen dem ersten großen Titel hinterhergejagt wie der König der Tierwelt einer Antilope, nachdem er tagelang kein Stück Fleisch bekommen hatte - gierig, aber zunehmend verzweifelt. Bis auf den Sieg im sportlich niederrangigen EHF-Pokal 2013 blieben Investitionen und Anstrengungen ohne greifbaren Ertrag. Zuletzt scheiterte die Mannschaft im Kampf um die Meisterschaft zwei Mal knapp am Seriensieger THW Kiel, 2014 fehlten in der Endabrechnung sogar nur zwei Tore. Die Löwen wurden in der Handball-Welt schon als "Ewige Zweite" verspottet, nicht zuletzt wegen ihrer neun vergeblichen Anläufe, beim Final Four in Hamburg den DHB-Pokal zu gewinnen. Diesen Ruf legte das Team um Kapitän Uwe Gensheimer am Sonntagnachmittag mit einem souveränen 35:23 (17:10)-Sieg beim Tabellenletzten TuS N-Lübbecke ab, erstmals in ihrer Vereinsgeschichte wurde die Mannschaft aus Mannheim deutscher Meister. Der SG Flensburg-Handewitt blieb mit einem Punkt Rückstand Rang zwei, der THW Kiel landete mit etwas weiterem Abstand auf dem dritten Platz.

TuS N-Lübbecke - Rhein-Neckar Löwen

Die Meisterschale in der Hand: Löwen-Kapitän Uwe Gensheimer verabschiedete sich am Sonntag mit dem ersten nationalen Titelgewinn von seinem Heimatklub.

(Foto: Bernd Thissen/dpa)

Anfang Mai, einen Tag nach der vierten Saisonniederlage des neuen Meisters in Berlin, entstand das Plakat als visualisierter Zusammenschluss der Spieler gegen die Außenwelt. Das gemeinsame Ankämpfen gegen negative Einflüsse sorgte dafür, die zuvor spürbare Angst vor dem neuerlichen Scheitern einzudämmen. Die Vokabel "Parasiten" wählten die Spieler bewusst, schließlich wollten sie sich davor schützen, von ihnen befallen zu werden. "Wir sind auf diese Weise noch einmal enger zusammengerückt", sagt der Spielmacher Andy Schmid. Der Schweizer weiß, dass die Wortwahl übertrieben ist, aber es bedurfte ihrer Deutlichkeit, um einen Effekt in den Köpfen zu erzielen. Der Rückraumspieler der Löwen, gerade zum dritten Mal nacheinander zum besten Akteur der Bundesliga gewählt, war einer der Initiatoren für die teaminterne Besprechung, an deren Ende das Plakat und - vier Liga-Siege später - die Meisterschaft stand. Kapitän Gensheimer war ein anderer.

Für den 29-Jährigen kamen am Sonntag die emotionale Wucht eines Abschieds und die eines Triumphes zusammen, so dass es nicht verwunderte, dass der Nationalmannschafts-Kapitän in den ersten Minuten nach Spielschluss die Kontrolle über sich verlor. Nach den Olympischen Spielen wechselt Gensheimer zu Paris-St. Germain, er trug zum letzten Mal das Löwen-Leibchen, ihm war es auch vorbehalten, am Sonntag das letzte Tor zu werfen: Nachdem er in der Schlussminute erst noch mit einem Siebenmeter gescheitert war, traf er anschließend, ungewohnterweise, mit einem Flachwurf aus dem Rückraum.

Zehn enge Entscheidungen: Die jeweils Ersten in diesem Jahrtausend

Jahr Meister Zweiter

2000 THW Kiel 52:16 SG Flensburg 52:16

2001 Magdeburg 59:17 TBV Lemgo 58:18

2002 THW Kiel 54:14 Nordhorn 53:15

2003 TBV Lemgo 62:6 SG Flensburg 57:11

2004 SG Flensburg 58:10 THW Kiel 56:12

2005 THW Kiel 62:6 SG Flensburg 60:8

2006 THW Kiel 62:6 SG Flensburg 55:13

2007 THW Kiel 58:10 Hamburg 58:10

2008 THW Kiel 61:7 SG Flensburg 54:14

2009 THW Kiel 65:3 Hamburg 52:16

2010 THW Kiel 62:6 Hamburg 61:7

2011 HSV Hamburg 62:6 THW Kiel 55:13

2012 THW Kiel 68:0 SG Flensburg 57:11

2013 THW Kiel 61:7 SG Flensburg 54:14

2014 THW Kiel 59:9 RN Löwen 59:9

2015 THW Kiel 65:7 RN Löwen 63:9

2016 RN Löwen 56:8 SG Flensburg 55:9

Bei der SG Kronau/Östringen, aus dem 2007 die Rhein-Neckar Löwen hervorgingen, startete der Linksaußen 2003 im Alter von 17 Jahren seine Karriere; er reifte in dem Klub zu einem der weltbesten Akteure auf seiner Position und blieb doch lange ohne Krönung. Erst am Sonntag vollendete der gebürtige Mannheimer sein Werk, als er die Meisterschale in Händen hielt. "Es ist noch überwältigender als ich dachte", sagte er, nachdem er die Fassung zurückgewonnen hatte. Er klang dabei nicht euphorisch, sondern von der Größe des Augenblicks gefangen.

In der Rückschau werden die Besprechung Anfang Mai und die Worte auf dem Flipchart immer wieder herangezogen werden, um das Ende der Ära jener "Die-können-nichts-gewinnen-Löwen" zu erklären. Allerdings gibt es auch deutlich simplere Gründe, warum die Badener ihren Titelfluch überwanden.

Seit die Einführung der sogenannten "Schnellen Mitte" 1996 den Handball revolutionierte, ihn viel rasanter machte und dafür sorgte, dass deutlich mehr Tore fallen, hat keine Mannschaft in der Bundesliga mehr so wenige Gegentreffer zugelassen wie die Löwen in der abgelaufenen Saison. Im Schnitt kassierten sie weniger als 22 Tore pro Partie. "Abwehrarbeit ist Charaktersache", sagte Christian Schwarzer vor ein paar Jahren. Der Weltmeister von 2007 hob hervor, dass es nicht auf Talent ankommt, um gegnerische Angreifer auszubremsen, sondern auf den Willen. Und daran mangelte es den Löwen nicht, die sich zudem trotz der vielen verpassten Titel-Chancen auf ihrem Weg durch Beharrlichkeit auszeichneten.

Des weiteren zahlte sich die ungewöhnliche Fokussierung der in drei Wettbewerben angetretenen Löwen auf den Liga-Betrieb aus. "Die Meisterschaft hat höchste Priorität", hatte Trainer Nikolaj Jacobsen im vergangenen Juli vorgegeben. Der Trainer beließ es nicht bei Worten, sondern gab seinen Stammspielern vor allem in der Champions League immer wieder Verschnaufpausen. In der Königsklasse schieden die Löwen deshalb bereits im Achtelfinale aus, im DHB-Pokal war erneut das Halbfinale Endstation. Doch dafür schafften es die Löwen, ohne größeren Ausrutscher durch die Liga zu kommen. Die vier Niederlagen gab es ausnahmslos gegen direkte Konkurrenten. Diese Konstanz fehlte diesmal sowohl den Flensburgern als auch den Kielern, die deshalb ihre Gratulations-Botschaften erstmals in Richtung der Löwen nach Mannheim entsenden mussten.

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