Handball:Experiment mit vielen Lösungen

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Willkommener Rückkehrer: Christian Dissinger überzeugt gegen Tunesien mit acht Toren. (Foto: Herbert Rudel/imago)

Beim ersten EM-Test überraschen die dezimierten deutschen Männer mit einem variantenreichen Angriffsspiel. Beim 37:30 über Tunesien offenbaren sich aber auch Schwächen in der Abwehr.

Von Joachim Mölter, Stuttgart

Christian Dissinger schien es gar nicht recht zu sein, dass er so im Mittelpunkt stand. Der 2,02 Meter große Mann blickte sich jedenfalls immer wieder um, als suche er nach einem Ausweg aus der Menschentraube, die ihn umzingelt hatte; er sprach auch nur leise in all die Aufnahmegeräte, die ihm entgegengehalten wurden. Aber er hatte nun mal die meisten Tore geworfen, nämlich acht, für die Auswahl des Deutschen Handballbundes (DHB) beim 37:30 (20:18) über Tunesien, dem ersten Test für die Europameisterschaft in Polen (15. bis 31. Januar). Und das war gleich in mehrerlei Hinsicht bemerkenswert.

Der 24 Jahre alte Dissinger ist ja sozusagen ewiges Talent und ewiger Patient des deutschen Handballs in einem: Dem WM-Titel bei den Junioren 2011 samt Ehrung als bester Spieler des Turniers folgten zwei Kreuzbandrisse, erst links, dann rechts; dazwischen war der linke Rückraumspieler gerade lange genug gesund, um in der Männer-Nationalmannschaft zu debütieren. Der Auftritt am Dienstagabend in Stuttgart war trotzdem erst sein viertes Länderspiel - und das erste nach fast drei Jahren.

Die wichtigste Erkenntnis: Zur Not kommt die DHB-Auswahl auch ohne Linksaußen aus

Dissingers Rückkehr kommt dem Bundestrainer Dagur Sigurdsson gerade recht, denn dem sind vor der EM die Leute ausgegangen. In den Flügelspielern Uwe Gensheimer (links) und Patrick Groetzki (rechts), dem Kreisläufer Patrick Wiencek sowie dem Rückraumspieler Paul Drux haben sich vier Akteure verletzt oder rekonvaleszent abgemeldet, die bei der WM vor einem Jahr in Katar zur Stammsieben gehörten. In Gensheimers WM-Ersatzmann Matthias Musche sowie dem kurzfristig nachnominierten, aber auch gleich wieder ausgefallenen Michael Allendorf fehlen zudem wichtige Entlastungsspieler. Zu allem Übel ist Sigurdssons letzter Mann auf Links, der junge Kieler Rune Dahmke, 22, angeschlagen; er wurde gegen Tunesien deshalb noch geschont.

Eine Erkenntnis aus dem Erfolg gegen Tunesien war somit: "Dass wir zur Not auch ohne Linksaußen auskommen", wie Torhüter Carsten Lichtlein sagte, mit 35 Jahren und 202 Länderspielen der Erfahrenste im Team. Aus der Personalnot heraus war Sigurdsson zu Experimenten gezwungen, und die ergaben eine erstaunliche Zahl von Lösungen, vor allem im Angriff. Mal schickte der Bundestrainer einen gelernten Rückraumspieler auf Linksaußen, dann kreuzten plötzlich drei wurfgewaltige Schützen auf dieser Seite auf und wirbelten die tunesische Abwehr durcheinander. Mal entsandte er einen zweiten Kreisläufer, der Lücken aufriss. Es ergab sich auch eine Option mit zwei Linkshändern und nur einem Rechtshänder im Rückraum, eine Konstellation, die für fast jeden Gegner unangenehm zu verteidigen ist. In der Summe war es jedenfalls so, dass durch Dissinger, Steffen Fäth (sechs Tore), die beiden Linkshänder Steffen Weinhold (fünf) und Fabian Wiede (vier) sowie den einmal erfolgreichen Finn Lemke rund zwei Drittel aller deutschen Treffer aus dem Rückraum fielen - eine Quote, die es schon lange nicht mehr gegeben hat.

Weil Sigurdsson zudem seinen etatmäßigen Regisseur Martin Strobel nach Erkältung und Trainingsrückstand schonte, mussten andere dessen Aufgaben übernehmen. Auch in dieser Hinsicht stellte der Coach nachher fest, dass sich ungeahnte Möglichkeiten auftun. Sigurdsson hat ein halbes Dutzend Akteure in seinem EM-Kader, die das Spiel gestalten können: neben Strobel und den gelernten Mittelmännern Simon Ernst und Niclas Pieczkowski überzeugten auch Fäth und Weinhold in dieser Rolle. "Und Wiede spielt das auch manchmal in Berlin", in seinem Heimatklub, erinnerte Sigurdsson, der ja selbst von den Füchsen Berlin kommt. "Es ist einfach gut, alle diese Varianten zu haben", fasste der Isländer zusammen: "Dadurch sind wir unberechenbarer für unsere Gegner."

So gut es im Angriff lief für die neu zusammengestellte DHB-Auswahl, so wacklig war indes die Abwehr. "Da haben wir es nicht geschafft, so kompakt und eng zu stehen, wie wir uns das vorgenommen hatten", gab Weinhold zu, der von Gensheimer das Kapitänsamt übernommen hat: "Bei der EM muss es unser Ziel sein, immer nur so um die 20 Gegentore zu bekommen. So viele hatten wir heute schon in der ersten Halbzeit, da ist auf jeden Fall noch Steigerungspotenzial."

Das wollen sie nun in den nächsten beiden und auch schon letzten beiden EM-Tests abrufen, am Wochenende gegen Sigurdssons Heimat Island (Samstag in Kassel, Sonntag in Hannover). Seine Landsleute seien "taktisch noch stärker" als die Tunesier und werden wohl "schneller auf unsere Aktionen reagieren", vermutet der Bundestrainer. Aber bange ist ihm vor der EM nicht. "Ich habe sehr gute Signale von meiner Mannschaft gesehen", fand er am Dienstag, "darauf kann man aufbauen."

© SZ vom 07.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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