Handball-EM:Vom Sofa zum EM-Titel

Handball-EM: Kai Häfner wurde "nur" nachnominiert. Zeigte danach aber genauso viel Einsatz und Leidenschaft wie alle anderen in der Mannschaft.

Kai Häfner wurde "nur" nachnominiert. Zeigte danach aber genauso viel Einsatz und Leidenschaft wie alle anderen in der Mannschaft.

(Foto: AP)
  • Julius Kühn und Kai Häfner saßen eine Woche vor dem EM-Finale noch zu Hause auf der Couch - dann wurden sie nachnominiert.
  • Die beiden spielten sofort eine tragende Rolle im deutschen Team.
  • Das beweist: Die Mannschaft kann Ausfälle kompensieren und ist sehr variabel.

Von Joachim Mölter, Krakau

Es war eine ganz und gar unruhige Nacht, die der Handballer Simon Ernst von Freitag auf Samstag rumgebracht hat. "Er war ein bisschen durch den Wind", erzählte Tobias Reichmann anderntags, und Julius Kühn bestätigte, "es war nicht ganz so schön für Simon". Kühn fand aber auch: "Er muss sich jetzt keinen Kopf machen." Dass er sich sogar "einen Riesenkopf" gemacht habe, gab der Betroffene später selbst zu: "Ich hatte ein richtig schlechtes Gewissen. So was darf mir nicht passieren, da muss ich meine Emotionen besser im Griff haben."

Simon Ernst, 21, Rückraumspieler beim VfL Gummersbach, hätte zur tragischen Figur bei dieser Europameisterschaft in Polen werden können. An ihm hatten die im Halbfinale nach Verlängerung unterlegenen Norweger nämlich einen Protest aufgehängt. Nach Kai Häfners Tor zum 34:33 fünf Sekunden vor Schluss war Ernst jubelnd aufs Parkett gestürmt, mit dem gelben Leibchen, das ihn als sogenannten "falschen Torwart" auswies - als Feldspieler, der bei eigenem Angriff kurzzeitig den Torhüter ersetzt, um eine Unterzahl auszugleichen oder eine Überzahl herzustellen.

Natürlich war Ernsts Sprint ein Regelverstoß, weil Torhüter Andreas Wolff noch auf dem Parkett und die Partie nicht offiziell beendet war. "Aber das hatte keinen Einfluss aufs Spiel", fand Bundestrainer Dagur Sigurðsson. Die niedergeschlagenen Norweger hatten nach dem 34. Treffer der Deutschen gar nicht mehr angeworfen, am Samstagmorgen zogen sie ihren Protest zurück.

Sie Szene aber zeigte wieder einmal exemplarisch, wie eng es eigentlich werden kann bei einem Handball-Spiel - gegen Russland (30:29), gegen Dänemark (25:23) und im Halbfinale mit den Norwegern kam es zu Last-Minute-Entscheidungen. Da wurde das Finale ausgerechnet mit den Spaniern, den Weltmeistern von 2013, zu einem für diese Sportart auf diesem Niveau ungewöhnlichen Start-Ziel-Sieg.

Auf jeder Postion gab es im deutschen Team einen Verletzten

Die Deutschen standen also am Sonntag im EM-Finale, zum dritten Mal nach 2002 (31:33 gegen Gastgeber Schweden) und 2004 (30:25 gegen Gastgeber Slowenien). Die Finalteilnahme allein war bereits der größte Erfolg der DHB-Männer seit dem WM-Triumph 2007 im eigenen Land. Unter ungünstigeren Voraussetzungen sind deutsche Handballer indes noch nie in irgendein Endspiel vorgedrungen.

Auf jeder Feldposition war dem Bundestrainer Sigurðsson vor und während des Turniers der gesetzte Spieler abhanden gekommen: Auch mit Linksaußen Uwe Gensheimer (Muskelfaserriss und Achillessehnenreizung), dem Halblinken Christian Dissinger (Adduktorenverletzung während der EM), dem Spielmacher Paul Drux (Reha nach Schulteroperation), dem Halbrechten Steffen Weinhold (Muskelbündelriss während der EM), dem Rechtsaußen Patrick Groetzki (Wadenbeinbruch) sowie dem Kreisläufer Patrick Wiencek (Kreuzbandriss) lässt sich eine formidable erste Mannschaft bilden. Sigurðsson hat alle Ausfälle klaglos hingenommen und schon vor der EM darauf hingewiesen, dass "Deutschland eine riesengroße Breite an guten Handballern" habe. Der Isländer war sicher: "Wir haben eine gute Mannschaft zusammen."

Die jüngste, die unerfahrenste, aber auch die talentierteste Mannschaft

Die war mit einem Durchschnittsalter von 24,6 Jahren die jüngste des Turniers und von der Zahl der Länderspiele her die unerfahrenste. Bis auf Torwart Carsten Lichtlein, 35, und Spielmacher Martin Strobel, 29, hatte keiner EM-Erfahrung - beim letzten kontinentalen Turnier vor zwei Jahren in Dänemark waren die Deutschen ja gar nicht dabei gewesen.

Umso erstaunlicher kommt nun diese Renaissance, die selbst die Konkurrenz beeindruckt. "Das ist die Mannschaft der Zukunft. Sie werden einer der großen Rivalen sein", hatte Victor Tomas, der Kapitän der Spanier, schon vor dem Anpfiff des Endspiels verraten. Während des Turniers verstärkte sich zudem der Eindruck, es gebe da plötzlich eine wahre Flut deutscher Handball-Talente.

Denn selbst nach den Verletzungen von Steffen Weinhold, dem Kapitän, und Christian Dissinger, dem gegen die Russen besten Rückraumschützen, fand Sigurðsson auf die Schnelle noch zwei Akteure, die sich im Halbfinale gegen Norwegen gar als Matchwinner erwiesen: die jeweils fünffachen Torschützen Julius Kühn (Gummersbach) und Kai Häfner (Hannover-Burgdorf).

"Ich kann's wirklich nicht fassen", sagte Häfner: "Vor einer Woche saß ich noch auf der Couch, jetzt stehe ich im EM-Finale." Im Fußball erscheint es unvorstellbar, dass zwei Nachnominierte sofort derart tragende Rollen einnehmen.

In Sigurðssons taktisch unglaublich variablem und flexiblem Konzept ist für jeden Akteur eine bestimmte Rolle vorgesehen. Es gibt ein grobes Raster, in dem sich die Mannschaft äußerst variabel präsentiert. "Im Grunde ist es bei uns egal, wer den Wurf nimmt", sagt Linksaußen Rune Dahmke, 22, der gegen Norwegen mit seinem Tor zum 27:27 die Verlängerung erzwang.

"Die Breite unseres Kaders ist unser Vorteil", stimmt Rechtsaußen Tobias Reichmann zu. Im Finale vergab Reichmann zwar beide Siebenmeter, doch mit 46 Treffern (26 Siebenmetern), war er der beste deutsche Werfer. Einer, mit dem vor Turnierstart auch niemand ganz so groß gerechnet hatte.

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