Handball-EM:Handball-EM: Sigurdsson fällt immer etwas ein

Lesezeit: 4 min

Dagur Sigurdsson: Mit Plan und trotzdem flexibel (Foto: Adam Nurkiewicz/Getty Images)
  • Die deutschen Handballer kommen dem EM-Halbfinale immer näher - auch weil Bundestrainer Dagur Sigurdsson eine wertvolle Eigenschaft besitzt.
  • Das Spiel gegen Russland gibt es ab 18.15 Uhr hier im Liveticker.
  • Tabellen und Ergebnisse der Handball-EM finden Sie hier.

Von Joachim Mölter, Wroclaw

Nach jeder gelungenen Aktion bei der Handball-Europameisterschaft in Polen geht ein Ruck durch die deutsche Mannschaft: Da werden Fäuste geballt, Arme in die Höhe gerissen, Mitspieler abgeklatscht. Die Profis peitschen sich gegenseitig auf, bis in einen Rausch hinein. Nur einer macht da nicht mit - Dagur Sigurdsson, der Bundestrainer.

Der 42 Jahre alte Isländer - geboren in Rejkjavik, U17-Nationalspieler im Fußball, im Handball 251 Einsätze für sein Land, zuletzt Trainer beim Bundesligisten Füchse Berlin - schaut dem Treiben in der Jahrhunderthalle von Wroclaw, dem früheren Breslau, cool von der Seitenlinie aus zu, häufig die Arme vor der Brust verschränkt, wie ein Tourist, der in der historischen Altstadt die Aussicht genießt.

Während alle vom Halbfinale reden, bleibt Sigurdsson ruhig

Die ist ja auch prima für die ersatzgeschwächte Auswahl des Deutschen Handballbundes (DHB) nach dem 29:19 (17:9) über Ungarn zum Auftakt der Hauptrunde am Freitagabend. Sigurdssons notgedrungen verjüngtes Team liegt mit nun 4:2 Punkten in der Gruppe II in Lauerstellung hinter den führenden Spaniern und Dänen (je 4:0), die sich am Sonntag im direkten Duell jedoch gegenseitig Punkte abnehmen werden. Im DHB-Kader schauen sie deshalb schon auf das Treffen mit Dänemark am Mittwoch (18.15 Uhr/ARD), von einem Endspiel um die Halbfinal-Teilnahme ist die Rede, gar vom Einzug in die Runde der letzten vier. Doch auch da macht Sigurdsson nicht mit. "Wir feiern hier gar nichts", hat er am Samstagmittag erzählt, "wir kommen einfach ins Hotel und denken an das nächste Spiel."

Das findet ja bereits am Sonntag statt, gegen Russland (18.15 Uhr/ARD). "Darauf müssen wir uns wieder gut vorbereiten. Es ist nicht so, dass man auf Autopilot drücken kann und alles läuft von alleine", sagt Sigurdsson. Er weiß: Wenn seine Mannschaft gegen Russland nicht gewinnt, gibt es danach gegen Dänemark auch kein Endspiel mehr.

"Russland ist richtig stark und kann uns sehr weh tun"

Vor den nach einem mehrjährigen Tief langsam wieder erstarkenden Russen hat Dagur Sigurdsson eine Menge Respekt. "Das wird ein anderes Spiel als gegen Ungarn", glaubt er. "Russland ist richtig stark und kann uns sehr weh tun. Es ist die gleiche Situation wie im letzten Jahr bei der WM." Da setzte sich die DHB-Auswahl in einer umkämpften Begegnung nur knapp 27:26 durch.

Sigurdsson wird sich also etwas einfallen lassen müssen, aber das ist ihm im Verlauf dieses Turniers ja bislang immer gelungen. In den anderthalb Jahren, in denen er nun dem Nationalteam vorsteht, hat er sich den Ruf erarbeitet, ein genialer Handwerker zu sein, mit einem klaren Plan und genug Flexibilität, um ihn wieder zu verwerfen und auf Unvorhergesehenes zu reagieren.

Der Isländer scheut kein Risiko, wenn er etwa nach Zeitstrafen in Unterzahl den Torwart vom Feld nimmt und dafür einen zweiten Kreisläufer hineinschickt: Der soll zum einen Freiräume für die Rückraumschützen schaffen, hält aber auch die gegnerische Abwehr zurück und verhindert so Gegenstöße - die wegen des verlassenen Tores zu einfachen Treffern führen würden.

Sigurdsson hat auch keine Scheu, seine Mannschaft umzukrempeln, wenn es nicht läuft. Nach der 29:32-Niederlage gegen Spanien im ersten Vorrundenspiel stellte er den 2,10 Meter großen Turnierneuling Finn Lemke für den immerhin WM-erfahrenen Erik Schmidt ins Abwehrzentrum neben Hendrik Pekeler; Lemke und Pekeler haben früher schon mal in Lemgo zusammengespielt, da klappte die Abstimmung besser.

Beim 27:26 über Schweden in der zweiten Partie, stellte er Andreas Wolff für den bis dato glücklos agierenden Carsten Lichtlein ins Tor - und stellte damit die Weichen zum Sieg. Die entscheidende Wende war allerdings die Umstellung der Abwehr auf eine 4-2-Variante; eine Idee, mit der in der Pause seine Assistenten Alexander Haase und Axel Kromer zu ihm kamen, wie Sigurdsson nachher selbstlos einräumte: "Aber dafür sind sie ja da."

Der junge, breite Kader ist jetzt kein Nachteil mehr, sondern ein Vorteil

Manchmal entspringen seine personellen Wechsel während der Spiele aber auch nur spontanen Eingebungen, "meinem Bauchgefühl", wie Sigurdsson sagt. Im abschließenden Vorrundenspiel gegen Slowenien (25:21) zum Beispiel ersetzte er Pekeler am Kreis durch den unerfahrenen Jannik Kohlbacher, 20, der die gegnerische Abwehr aber sehr beschäftigte und auf Trab hielt.

"Unser großer Vorteil liegt in der Breite des Kaders", sagt Tobias Reichmann, mit insgesamt 24 Treffern (darunter 14 Siebenmetern) bislang bester deutscher Torjäger bei diesem Turnier: "Es gibt keine erste oder zweite Sieben - alle sind gleichwertig." Dazu gehört auch, dass es im Grunde keinen klassischen Regisseur im Rückraum mehr gibt in Sigurdssons System: Steffen Fäth, Christian Dissinger, Steffen Weinhold und Fabian Wiede können sowohl auf den Halbpositionen als auch in der Mitte agieren; wenn die beiden Linkshänder Weinhold und Wiede gemeinsam wirbeln, ist das für jeden Gegner unangenehm zu verteidigen. "Man hat schon gesehen, wie variabel wir im Angriff spielen können", sagt Martin Strobel, 29, der einzig verbliebene echte Spielmacher im Kader.

Notfalls ändert er die Taktik in der Halbzeit

Dagur Sigurdsson hat erstaunlich viele Optionen geschaffen, dafür, dass er mit einer vermeintlich geschwächten, unerfahrenen Mannschaft bei der EM in Polen antritt. Er wird sich auch gegen Russland eine passende Taktik ausdenken, und wenn die nicht hilft, wirft er in der Halbzeit notfalls alles über den Haufen und vertraut seinem Bauchgefühl.

Seine Spieler vertrauen ihm ja auch; die hat er nach dem euphorischen Erfolg über Ungarn gleich wieder auf Linie gebracht. "Natürlich ist das Halbfinale unser Traum", sagte der sechsfache Torschütze Wiede, 21, den Sigurdsson bei den Füchsen Berlin selbst großgezogen hat: "Aber erst einmal müssen wir an das sogenannte Achtelfinale gegen Russland denken. Wenn wir das verlieren, ist alles vorbei."

© SZ vom 24.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: