Handball-EM:Ein Novize, der volles Risiko geht

Germany v Iceland - International Handball Friendly

Christian Prokop wird das deutsche Team bei der Handball-EM in Kroatien trainieren.

(Foto: Bongarts/Getty Images)

Von Ralf Tögel

Bob Hanning ist ein ausgebuffter Profi, was den Umgang mit der Öffentlichkeit angeht. Und deshalb weiß er sehr genau, wann er seinem ersten Angestellten Christian Prokop, dem neuen Bundestrainer, zur Seite springen muss. Nämlich jetzt. Also sagte der Vizepräsident Leistungssport des Deutschen Handballbundes (DHB) zu den beiden finalen Vorbereitungsspielen der deutschen Auswahl gegen den EM-Teilnehmer Island: "Ich habe selten eine isländische Mannschaft gesehen, die so wenig für eine Europameisterschaft bereit war." Richtig schlecht seien die Nordmänner gewesen in den Tests gegen die Deutschen in Stuttgart und Neu-Ulm, betonte Hanning. Nicht besonders höflich, aber auf die Nachricht kommt es an: Soll niemand die deutlichen 36:29 und 30:21-Siege als einzigen Maßstab für die EM nehmen. Schon an diesem Samstag, im Turnier-Auftaktspiel gegen Montenegro, wird das nicht mehr helfen.

So riesig die Erwartungen an den Titelverteidiger Deutschland sind, allein schon wegen der souveränen Qualifikation, so tückisch ist die Vorrunde gegen die drei unangenehmen Teams vom Balkan. Trotzdem sind die Deutschen klarer Favorit in der Vorrundengruppe C, in der neben Montenegro der Weltmeisterschafts-Dritte Slowenien, der in der Qualifikation zweimal klar bezwungen wurde, und Mazedonien die Gegner sind.

Und dann ist da noch diese Frage: Wie meistert der Novize Prokop, 39, sein erstes Turnier in der prominenten Rolle?

Bob Hanning musste dem Bundestrainer in der vergangenen Woche auch noch in einer anderen Angelegenheit beistehen: Prokop hat zwei Spieler für die EM ausgemustert, die als gesetzt galten. Vor allem die Nichtberücksichtigung des Abwehrspezialisten Finn Lemke schlug hohe Wellen. Zahlreiche Experten waren sofort mit Kritik zur Stelle, was Hanning nicht weniger flink als unnützes Säbelrasseln zurückwies. Auch Kritik am Fehlen des Berliners Fabian Wiede, den Hanning als Ziehsohn bezeichnet und nur "Fabi" nennt, schluckt er hinunter. Hanning ist im Hauptjob Manager des Bundesligisten Füchse Berlin und stolzer Protegé des 23-jährigen Nationalspielers, aber jetzt sagt er: "Fabi wird noch viele wichtige Spiele für die Nationalmannschaft machen. Es zählt nur die Leistung, und dieses Mal hat sich der Trainer anders entschieden. Dann ist das so."

Hanning erinnerte an mögliche Nachnominierungen - wie zuletzt bei der WM in Frankreich, als Holger Glandorf und Hendrik Pekeler später zum Kader stießen. Wucht allerdings konnte Hanning mit dem Hinweis kaum aus der schwelenden Debatte nehmen - der Prokop-Debatte.

Was ist das nun für ein Trainer, der mit seiner ersten tragenden Entscheidung derart überrascht hat? Und der mit der Nominierung von zwei Debütanten aus seinem ehemaligen Klub Leipzig - anstelle gestandener Europameister - bewusst ins Risiko geht und damit Angriffsfläche bietet?

Zunächst einmal ist Prokop ein sehr gelassener Trainer. Er parliert ruhig über seine Beweggründe und bringt in druckreifen Sätzen sein Missfallen darüber zum Ausdruck, dass von ihm in seinem ersten Turnier als Nationalcoach nicht weniger als die Titelverteidigung verlangt wird: "Für mich sind Weltmeister Frankreich, Olympiasieger Dänemark und Gastgeber Kroatien die Topfavoriten." Er habe Verständnis für die Kritik, sicher. Doch Prokop erinnert daran, "wie überraschend der Titel vor zwei Jahren in Polen kam". Und - kleiner Wink mit dem Zaunpfahl - dass sich seinerzeit ausgerechnet in den nachnominierten Kai Häfner und Julius Kühn zwei bis dahin wenig bekannte Akteure in den Fokus der Fachwelt spielten.

Statistiken spielen unter Prokop eine untergeordnete Rolle

Warum sollte das nun in Kroatien den Debütanten Sebastian Roschek (in dem Prokop im Vergleich zu Lemke den flinkeren und flexibleren Abwehrspieler sieht) und Maximilian Janke (der in der Vorbereitung einen starken Eindruck hinterlassen hat) nicht auch gelingen?

Die Berufung von Philipp Weber, dem dritten Leipziger im Kader, ist sowieso unumstritten, der 25-Jährige ist gelernter Spielmacher und darüber hinaus äußerst torgefährlich. In der Saison 2016/17 war er bester Schütze der Bundesliga.

Der Turnier-Spielplan

VORRUNDE

Gruppe A (in Split)

Schweden, Island, Kroatien, Serbien.

Gruppe B (in Porec)

Weißrussland, Österreich, Frankreich, Norwegen

Gruppe C (in Zagreb)

Deutschland - Montenegro Sa. 17.15

Mazedonien - Slowenien Sa. 19.30

Slowenien - Deutschland Mo. 18.15

Montenegro - Mazedonien Mo. 20.30

Deutschland - Mazedonien Mi. 18.15

Montenegro - Slowenien Mi. 20.30

Gruppe D (in Varazdin)

Spanien, Tschechien, Dänemark, Ungarn.

HAUPTRUNDE (18. bis 24. Januar)

Gruppe 1 (in Zagreb): Die ersten Drei der Gruppen A und B.

Gruppe 2 (in Varazdin): Die ersten Drei der Gruppen C und D.

HALBFINALE (26. Januar, in Zagreb)

Die jeweils ersten Zwei der Gruppen 1 und 2.

FINALE: Sonntag, 28. Januar, in Zagreb.

Doch derlei Statistiken spielen bei Prokop eine untergeordnete Rolle, für den gebürtigen Sachsen-Anhaltiner steht das Kollektiv im Vordergrund: "Es ist wichtig, dass jeder Spieler seine Aufgabe im System versteht und wir so ohne Leistungsabfall, gerade bei Wechseln, eine starke Performance aufrechterhalten können. Das wird die Aufgabe sein." Vornehmlich aus diesem Blickwinkel hat er die Statik des Kaders gebaut, Prokop führt in Kroatien eine Equipe an, die aufgrund ihrer Ausgeglichenheit schwer zu dechiffrieren ist. Kein Spieler sticht heraus, die Qualitäten der Akteure sind vielfältig. Wuchtige Werfer, schnelle Flügelspieler, eine robuste Abwehr und ein exzellentes Torhüter-Duo - vielleicht sind Andreas Wolff und Silvio Heinevetter sogar das beste der EM.

Man kann Christian Prokop als einen gewissenhaften und akribischen Arbeiter beschreiben, der sich schon mal mit einem Laptop stundenlang zur ausufernden Analyse in sein Büro zurückzieht. Der, wie man so sagt, 24 Stunden Handball denkt und lebt. Trotz seines jungen Alters blickt der ehemalige Erstligaspieler (Wuppertal und Minden) auf fast 15 Jahre Trainertätigkeit zurück, er hat sich in den Niederungen der dritten und zweiten Liga bis zum Chefcoach des SC DHfK Leipzig entwickelt. 2013 übernahm er die Sachsen in der zweiten Liga, stieg eine Spielzeit später in die Bundesliga auf und formte den Traditionsklub zu einem gestandenen Erstligisten. 2016 zeichnete ihn die Bundesliga als Trainer der Saison aus.

In Leipzig habe er "aus wenig viel gemacht", so Hanning. Für den DHB soll Prokop "aus viel mehr machen".

Bisher führte Prokops Weg stetig bergauf

Der erklärte Ansatz war stets, "bei den Olympischen Spielen 2020 in Tokio um Gold zu spielen", sagt Hanning. Dass der DHB mit dem EM-Titel und Olympia-Bronze 2016 unter Prokops Vorgänger Dagur Sigurdsson seinem Zeitplan einen großen Schritt voraus ist, ändert nichts am Vorgehen. "Wir sind überzeugt, dass wir mit dieser Personalentscheidung absolut richtig liegen", sagt Hanning und erinnert daran, dass er den Bundestrainer nicht im Alleingang bestimmt habe. Sportdirektor Axel Kromer, dessen Vorgänger Wolfgang Sommerfeld und sogar die Liga seien involviert gewesen: "So etwas macht doch keine Person alleine", sagt Hanning. Im Übrigen, und das ist in der aktuellen Gefechtslage nicht ganz unerheblich, sei der DHB-Vorstand auch in Prokops Kaderplanungen explizit involviert gewesen.

Bisher führte der Weg des Handball-Trainers Christian Prokop stetig bergauf. Mit der Nationalmannschaft startete er zwar mit einer Niederlage in einem Testspiel gegen Schweden, die Qualifikation zur EM indes ist ihm prächtig gelungen. Sein Pflichtspiel-Debüt gab er in Slowenien, ohne die erkrankten Steffen Weinhold und Kai Häfner. Es gibt kuscheligere Ausgangspositionen, Deutschland gewann souverän mit 32:23. "Wir haben als Mannschaft nahezu perfekt die taktischen Vorgaben umgesetzt und unheimlich konzentriert und bissig gespielt. Das sind genau die beiden Bausteine für Kroatien: taktische Disziplin und eine deutsche Mannschaft, die kämpft."

Prokop ist klar, dass seine Kaderplanung spätestens bei Misserfolg wieder ein Thema wird. Sein Chef wird dann zur Stelle sein, zumal Bob Hanning nur zu gut weiß, dass dann auch er hinterfragt wird. Aus Erfahrung: "Ich mache das seit 2013, mir wurde Vetternwirtschaft vorgeworfen, als ich Dagur Sigurdsson vom Trainerposten in Berlin zum Bundestrainer gemacht habe, dann als er die Berliner Spieler Paul Drux und Fabian Wiede in die Nationalmannschaft berufen hat. Am Ende des Tages war es immer richtig, und plötzlich haben alle gesagt, dass sie es genauso gemacht hätten." Scheitert die deutsche Auswahl nun früh, werden Hanning trotzdem auch die kolportierten 500 000 Euro um die Ohren fliegen, mit denen der DHB den neuen Bundestrainer aus seinem Vertrag in Leipzig herausgekauft hat.

Aber vielleicht wird ja auch das in der Rückschau als lohnendes Investment interpretiert werden. "Ich bin jedenfalls tiefenentspannt", sagt Hanning, "und stehe für jede Kritik gerne zur Verfügung."

Bob Hanning, der Bundestrainerbeschützer, braucht jedenfalls keinen Schutz, so viel ist klar.

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