Handball-Bundesliga:Meldungen aus Melsungen

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Anhaltende Euphorie: Die Handballer der MT Melsungen überraschen mit Siegen gegen Berlin und in Flensburg die Liga. (Foto: imago)

Nach fünf Siegen hintereinander riss am Samstag die Serie. Und doch sind die Handballer aus Kassel die Überraschung der Liga. Der Etat ist nicht hoch, ein herausragender Spieler fehlt.

Von Martin Schneider, Berlin/Kassel

Manchmal, sagt Michael Roth, da hören seine Spieler "gräuliche Musik". Das sei der Moment, wo er, der Trainer, die Kabine verlassen müsse. Aber das sei wohl normal, dass Trainer irgendwann mit der Musik der Jungen nicht mehr mitkommen. Allerdings gäbe es auch in seiner Mannschaft ein paar vernünftige Leute. Man muss nun wissen, dass Michael Roth musikalisch voreingenommen ist. Sein Bruder Uli ist Manger der Gruppe "Pur" mit Sänger Hartmut Engler. Wenigstens ein paar seiner Spieler, erzählt er erleichtert, seien große Fans der Gruppe. "Die Müller-Brüder waren schon auf Konzerten", berichtet der 53-Jährige, und manchmal, auf langen Busfahrten, wenn man was zu feiern habe, da laufe der "Pur-Party-Hitmix". Immerhin.

In den vergangenen Wochen liefen bei der MT Melsungen häufiger Feier-Lieder. Die Handballer aus dem 13.000-Einwohner-Ort bei Kassel sind aktuell sowas wie das Team der Stunde in der Handball-Bundesliga. Sie sind mit fünf Siegen aus den ersten fünf Spielen gestartet, darunter ein Erfolg gegen die Füchse Berlin am ersten Spieltag und vor allem der Auswärtssieg beim Meisterschaftsfavorit SG Flensburg-Handewitt. "Wenn wir in Flensburg gewinnen wollen, müssen schon Weihnachten, Ostern und Pfingsten auf einen Tag fallen", sagte Roth noch vor dem Spiel. Das passierte nicht, aber seine Jungs gewannen trotzdem 33:32 und verbreiteten danach den Slogan "Melsungen ist jetzt Meldungen wert".

Der Etat ist der neunthöchste der Liga

Im Handball gibt es sehr viel seltener Überraschungsteams als etwa im Fußball, weil einzelne Tore viel weniger wichtig sind und dadurch unter anderem der Zufallsfaktor reduziert wird. Individuelle Qualität setzt sich also häufiger durch und darum ist es umso erstaunlicher, dass ausgerechnet die Melsunger Turngemeinde (MT), früher so etwas wie der VfL Bochum des Handballs, also der Inbegriff der grauen Maus, nun die Liga ein bisschen durchschüttelt. Wobei: So ganz überraschend ist das nun auch wieder nicht, denn seit der ehemalige Nationalspieler Roth 2010 den Trainerjob in Nordhessen übernahm, wird der Klub kontinuierlich besser.

Vor fünf Jahren lief er noch zuverlässig auf Platz zehn oder elf in der Abschlusstabelle ein. Vor zwei Jahren folgte der Sprung auf Platz sechs und die erste Europapokalteilnahme, letztes Jahr wurde es wieder Platz sechs, der aber diesmal nicht fürs internationale Geschäft reichte. Trotzdem: Der Etat ist mit 4,5 Millionen Euro nicht übermäßig hoch, der neunthöchste der Liga, und in Torwart Mikael Appelgren verlor Melsungen vor der Saison ihren besten Mann an die Rhein-Neckar Löwen.

Fragt man Roth nach diesem erstaunlichen Start, dann dämpft er wie fast jeder gute Trainer im Erfolgsfall die Erwartungen. "Wir dürfen jetzt natürlich nicht abheben", meint Roth. "Es herrscht eine gewisse Euphorie, das ist legitim. Aber wir haben ein klares Ziel und das ist Platz fünf." Und man traut ihm schon zu, dass er die Möglichkeiten seiner Mannschaft realistisch einschätzen kann. Roth ist nach dem Kieler Alfred Gislason der dienstälteste Trainer der Liga und was sie in Melsungen von seiner Arbeit halten, sieht man an seinem Vertrag: Er läuft bis 2020.

Das Scouting macht der Trainer nebenher

Basis des Melsunger Spiels ist eine stabile und aggressive Abwehr und das Tempospiel nach vorne. Vergangene Saison warfen sie etwa als Tabellensechster mehr Tore als der Dritte Flensburg, kassierten aber auch über hundert Gegentreffer mehr. Diese Unwucht hat System, ein schnelles Spiel, das hin und her schwappt, kommt Melsungen entgegen. Einen herausragenden Spieler, von dem das Gelingen einer ganzen Partie abhängt, gibt es bei dem Team, das seine Heimspiele in der Rothenbach-Halle in Kassel austrägt, zum Beispiel nicht. Der beste Werfer ist Kreisläufer Marino Maric auf Platz 13 der Torjägerliste.

Roth ist darüber auch nicht unglücklich, im Gegenteil, sie zelebrieren die "Starlosigkeit" ein bisschen: "Wir können nur über die Breite und den Zusammenhalt des Kaders kommen", sagt Roth. Er musste nur einen einzigen Feldspieler (Timm Schneider, kam vom TBV Lemgo) vor der Saison neu integrieren, der Rest der Mannschaft um die deutschen Nationalspieler Michael Müller, Johannes Sellin und Michael Allendorf spielt schon teilweise über Jahre zusammen, von 16 Spielern kommen neun aus Deutschland. "Das ist uns wichtig, wir brauchen die regionale Identität", sagt Roth. Das Scouting verantwortet er übrigens alleine. "Ich beobachte viel und manchmal ist auch Glück dabei." Wie etwa beim Kroaten Maric, den er bei der Junioren-WM sah und der seiner Meinung nach bald vielleicht der beste Kreisläufer der Liga werden kann.

Und weil Roth vor allem nach dem Sieg gegen Flensburg mahnte und er in den vergangenen Jahren oft Recht hatte, verlor Melsungen am Samstag auch prompt das erste Saisonspiel zu Hause gegen Angstgegner VfL Gummersbach mit 23:27. Aus der Ruhe lassen sie sich trotzdem nicht bringen. Fragt man Roth, ob eventuell mehr drin ist als der anvisierte Platz fünf, schnaubt er kurz und sagt. "Nein. Das ist utopisch."

© SZ vom 20.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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