Lewis Hamilton:Sein Meisterstück

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Gerührt: Lewis Hamilton zieht mit Michael Schumacher gleich (Foto: Pool via REUTERS)

"Ich fühle, ich habe heute etwas Großes erreicht": Lewis Hamilton beweist beim spektakulären Rennen in Istanbul, dass er den Unterschied macht - und wird der erst zweite siebenmalige Weltmeister der Formel 1.

Von Philipp Schneider, Istanbul/München

Als es vollbracht war, schlug er die Hände über seinem Visier zusammen, gekreuzt. Dort lagen sie nun wie die Scheibenwischer auf einer Frontscheibe. Als ließen sich so die Tränen wegwischen, die sich unter dem Schutzglas sammelten. Was man weiß, weil ihre Überreste Minuten später noch als feuchter Film auf seinen Augen zu sehen waren, als er sich endlich seines Helms entledigt hatte, um einen schönen Satz zu sprechen, den er sich wohl gut überlegt hatte: "An alle Kinder da draußen, die vom Unmöglichen träumen - ihr könnt es schaffen!"

Lewis Hamilton blieb noch eine Weile hocken auf seinem Fahrersitz. Also saß er dort wie auf einem Thron, als die zwei ersten Gratulanten zu ihm kamen und sich zu ihm herunterbeugten, um dem erst zweiten siebenmaligen Weltmeister in der Geschichte der Formel 1 ihre Aufwartung zu machen. Sie waren nah dran, weil sie es ja ebenfalls aufs Podium geschafft hatten: Sergio Perez, der Zweiter wurde. Und Sebastian Vettel, der tatsächlich mal wieder eine Siegerehrung aus der Nähe erlebte - nachdem er auf den letzten Metern des Rennens einen Fahrfehler seines Teamkollegens Charles Leclerc ausgenutzt hatte: "Wir durften ihm zuschauen, wie er Geschichte schreibt, das habe ich ihm gesagt", sagte Vettel. "Und dass er der beste Pilot unserer Generation ist."

War es Glück? War es Können?

Es ist ja nicht nur der Rekord, der in Erinnerung bleibt. Auch der Weg dorthin. War es Glück? War es Können? In Jahren noch sollen sich die Menschen an den Großen Preis der Türkei dieses seltsamen Seuchenjahrs 2020 erinnern, Lewis Hamilton wusste das ganz genau. Und deshalb setzte er, wenige Runden waren nur noch zu fahren, einen Funkspruch ab, den man im Gedächtnis behalten würde. "Mich interessiert gerade nur: Gibt es die Sorge, dass die Reifen in die Luft fliegen könnten?" Nun, nach Lage der Dinge sei das nicht zu befürchten, antwortete sein Renningenieur. Also blieb Hamilton auf der Strecke, fuhr immer weiter auf der regennassen Strecke. Er fuhr die Pneus so weit ab, dass seine einstmals tief profilierten Mischreifen am Ende glänzten wie ein geölter Babypopo. Und im Prinzip war diese Entscheidung ein leichtfertiger Irrsinn.

Das, was Hamilton am Sonntag aufführte auf der Bühne des Istanbul Parks, das war zwar ein Meisterstück. Allerdings ein völlig unnötiges. Er hätte einfach an die Box rollen, sich dort frische Gummis anschrauben lassen können und dann mühelos und sorgenfrei zu seiner siebten Weltmeisterschaft tuckern können. Er musste ja nur vor seinem Teamkollegen Valtteri Bottas ins Ziel rollen, dem einzigen verbliebenen Konkurrenten um den Titel. Und den hatte er überrundet, 15 Umdrehungen vor Schluss. Was für eine Demütigung.

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An einem gewöhnlichen Sonntag wäre Hamilton vielleicht auf Nummer sicher gegangen. Aber dies hier war der 15. November 2020, jener Tag, auf den Lewis Hamilton, geboren vor 35 Jahren im englischen Stevenage als Enkel grenadinischer Einwanderer, sehr lange hingearbeitet hatte: An jenem Tag, als er die Rekordmarke von Michael Schumacher egalisierte, die 17 Jahre Bestand gehabt hatte, wollte er nicht einfach nur schneller sein als Bottas. Er wollte beweisen, dass es der Mensch ist, der den Unterschied macht im Motorsport, nicht nur sein überlegener Mercedes, der ihn in den vergangenen sieben Jahren sehr selten im Stich gelassen hat. "Ich wollte keine Meisterschaft in der Boxengasse verlieren", sagte Hamilton zwar. Aber das war, mit Verlaub, angesichts seiner Führung vor Bottas ein absurdes Argument.

Ein gleichermaßen unterhaltsames wie ungewöhnliches Rennen

Als habe sich eine übergeordnete Instanz eine außergewöhnliche Prüfung für Hamilton überlegt, gab es beim Rennen in der Türkei tatsächlich erstmals Bedingungen, bei denen der stets verlässliche Mercedes W11 schwächelte. Also musste es der Fahrer richten. Schon am Samstag in der Qualifikation hatte es geregnet. Aber der Regen allein war nicht das Problem. Der frische Asphalt, den sie erst vor wenigen Wochen im Istanbul Park aufgetragen hatten und der deshalb noch wenig griffig war, bildete schon eher die Hürde. Am Freitagabend schickten die Veranstalter eigens Mietautos auf die Strecke. Deren Reifen sollten Gummi auf der Strecke verteilen, um ihr mehr Grip zu verleihen. In Kombination mit den niedrigen Temperaturen fühlten sich die Reifen des Mercedes an "wie Plastik auf Eis", sagte Bottas.

Wenn es zu kalt ist, hat Mercedes traditionell Probleme, die Gummis auf Wohlfühltemperatur zu bringen. Nicht ein einziges Mal hatte in dieser Saison ein anderes Auto auf der Pole Position gestanden als ein Silberpfeil. Diesmal aber verfehlte Hamilton die beliebteste Parkbucht der Formel 1 um sagenhafte 4,7 Sekunden: Platz sechs für den sechsmaligen Weltmeister.

Die Pole Position hatte sich zum ersten Mal in seiner Karriere Lance Stroll im Racing Point gesichert. Hinter ihm lauerte Max Verstappen im Red Bull, gefolgt von Strolls Teamkollegen Sergio Perez und dem Verstappens: Alex Albon.

Die Ampeln gingen aus - und Verstappen blieb fast kleben auf dem regennassen Asphalt, so schlecht kam er vom Fleck. Hamilton schoss vor auf Position drei, verbremste sich aber und fiel wieder zurück auf Rang sechs. Weil sich Bottas gleich in der ersten Kurve von der Strecke drehte und so ans Ende des Feldes zurückfiel, dürfte sich Hamiltons Puls von Rennbeginn an im gesunden Bereich gehalten haben. Noch besser startete Vettel im Ferrari, der sich in der ersten Runde um acht Positionen verbesserte auf Platz drei.

Es begann der beliebte Poker um die richtige Reifenwahl

Es entwickelte sich ein gleichermaßen unterhaltsames wie ungewöhnliches Rennen: Vorneweg düste Stroll, gefolgt von seinem Teamkollegen und Sebastian Vettel im sonst so lahmen Ferrari.

Die Strecke war nass, aber es hatte aufgehört zu regnen. Also begann der beliebte Poker um die richtige Reifenwahl. Nach sieben Runden ließ sich Leclerc als erster Pilot Intermediates aufziehen, die Mischreifen für wechselhafte Bedingungen. Bottas, der auf Platz 15 nicht weiter nach vorne kam, zog nach. Genau wie Vettel und Hamilton - und dann alle Piloten außer zunächst den Red Bulls. "Lasst uns nicht zu früh wechseln!", funkte Verstappen. Eine schlaue Idee. Alle fuhren raus, er hatte freie Bahn. Nach elf Runden ließ auch er seine Gummis tauschen, und als er wieder auf die Strecke bog, war er vorbei an Vettel, dem nun Hamilton im Nacken saß.

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Hamilton griff Vettel an, kam dabei aber ab von der Fahrbahn - und beklagte sich im Funk über seine Bremsen an der Front. Und während Albon die überlegene Kraft seines Red Bulls nutzte, um sich an Vettel vorbeizuschieben, riskierte weiter vorne Verstappen zu viel: Bei dem Versuch, Perez zu überholen, kam er auf den Randstein, kreiselte wie ein Karussell und fing seinen Wagen meisterhaft ab. Dabei holte er sich einen Plattfuß, nach dem Boxenstopp war er nur noch Achter.

Immer weiter trocknete die Strecke ab - aber war sie trocken genug für Trockenreifen? "Es ist rutschig wie die Hölle hier draußen", funkte Hamilton. Wieder fuhr Leclerc als Erster an die Box, ließ sich einen neuen Satz Mischreifen reichen. Sofort legte er eine neue schnellste Runde vor. Nach und nach taten es ihm die übrigen Piloten gleich. Hamilton blieb draußen, rückte dadurch an die Spitze. Allmählich wurde klar: Sollte Hamilton nicht mehr an die Box müssen, er würde einen Sieg feiern, mit dem niemand gerechnet hatte. "Viele haben heute die Kontrolle verloren, und das war ein großer Test für mich", sagte Hamilton. "Ich fühle, ich habe heute etwas Großes erreicht." Und so falsch lag er mit dieser Einschätzung ja wahrlich nicht.

© SZ vom 16.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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