Hamburger SV:Retter in Not

Foto Lewis Holtby HSV gegen Fernandes da Silva Fussball 1 Bundesliga am Sa 17 09 2016 Hambur

Pressing-Spezialisten: Leipzigs Fernandes da Silva (links) treibt HSV-Profi Lewis Holtby in die Enge.

(Foto: Claus Bergmann/Imago)

Die Profis des HSV lassen sich von Aufsteiger Leipzig auskontern wie Grünschnäbel - und entfachen damit die Debatte um ihren Chefcoach Bruno Labbadia.

Von Jörg Marwedel, Hamburg

So mies gelaunt hat man Bruno Labbadia noch nie erlebt, seit er im April 2015 zum zweiten Mal seinen Dienst als Trainer des Hamburger SV antrat. Als ihn ein Fernsehreporter nach dem 0:4 gegen Aufsteiger RB Leipzig nach seiner Zukunft fragte, erwiderte er giftig: "Traurig, dass Sie mir so eine Frage stellen. Wenn das der Journalismus ist und wenn Sie die Diskussion anstoßen wollen, dann machen Sie es so." Kurz darauf brach er das Interview ab. Der Coach ist nach knapp anderthalb Jahren wieder in jenem Modus angekommen, in dem er glaubt, sich verteidigen zu müssen. Er habe noch nie entspannt sein können, seit er wieder in Hamburg arbeite, erklärte er später in einem anderen Gespräch. Und das, obwohl er seit dem 1. Juni 2015 den Bonus eines HSV-Retters mit sich führt. Damals sicherte er dem fast schon abgestiegenen Klub doch noch die weitere Zugehörigkeit zur Bundesliga.

Vor der Partie hatten Anhänger des Traditionsklubs HSV ihre Abneigung gegen den vom österreichischen Getränkeproduzenten Dietrich Mateschitz finanziell aufgerüsteten Retortenklub aus Leipzig ausgedrückt - doch dessen Fans konterkarierten die Demonstration: "Ohne Kühne wär hier gar nichts los!", riefen sie - und das nicht zu Unrecht. Seit Labbadia wieder da ist, hat der schwerreiche HSV-Anhänger und Investor Klaus-Michael Kühne wesentlich dazu beigetragen, dass der hoch verschuldete HSV 55 Millionen Euro in neues Personal stecken konnte. Doch die sportliche Perspektive ist dadurch offenbar nicht besser geworden. Die Frage, die Kühne kürzlich stellte, war: Kann Labbadia das weitgehend erneuerte Ensemble "in Form bringen?" Vorerst muss man sagen: Nein.

Spätestens nach der Abreibung durch die Leipziger, die seit Jahren mit einem klaren Pressing-Konzept eine Liga nach der anderen aufrollen und nun vorerst den zweiten Tabellenplatz hinter dem FC Bayern belegen, fällt das HSV-Zwischenzeugnis trostlos aus. "Mir tut es für jeden leid, der heute unsere Farben tragen musste", sagte etwa Mittelfeldspieler Lewis Holtby, der noch einer der Besseren war. Das Kuriose ist: Obwohl immer mehr vielversprechende Talente im Kader stehen, spielt der HSV noch immer wie ein Abstiegskandidat. Saisonübergreifend hat die Mannschaft im Jahr 2016 mit Ausnahme der Ab- und Aufsteiger die wenigsten Punkte in der Bundesliga gesammelt. Auch die Leipziger haben die eine Stunde lang gleichwertigen Hamburger am Schluss ausgekontert wie Grünschnäbel.

Nach dem 0:1 in der 66. Minute durch einen Elfmeter von Emil Forsberg (HSV-Keeper René Adler hatte den eingewechselten Timo Werner gefoult) tappten die entnervten Hamburger immer wieder in die Falle. Der Schwede Forsberg war auch an den nächsten drei Treffern beteiligt. Sechs Minuten nach dem Führungstor flankte er einen Freistoß auf den Kopf von Willi Orban; bevor die Kugel die Linie überquerte, hat ihn wohl auch Werner noch kurz berührt, weshalb der Stürmer den Treffer für sich reklamierte - ein kleiner Streit der Erfolgreichen. Wieder fünf Minuten später nutzte Forsberg den zweiten Patzer von Johan Djourou (der schon den Freistoß verschuldet hatte) aus und bediente erneut den schnellen Timo Werner - 0:3. Und in der Nachspielzeit setzte sich Forsberg robust gegen Holtby durch und gab dem für Yussuf Poulsen gekommenen Davie Selke die hübsche Vorlage zum 0:4.

Viele Zuschauer hatten das Volksparkstadion da schon verlassen; diejenigen, die geblieben waren, pfiffen so laut wie schon lange nicht mehr. Labbadia müsste sich nun selbst jene Fragen stellen, die er öffentlich nicht ernsthaft beantworten will. Wieso hat er nicht darauf gedrungen, einen besseren Innenverteidiger zu verpflichten und stattdessen den häufig fehlerhaften Djourou als Kapitän bestätigt? Wieso hat er den glücklosen Spielmacher Aaron Hunt, der Sekunden vor der Pause mit einer großen Chance an Leipzigs Torwart Peter Gulacsi scheiterte, 70 Minuten auf dem Feld gelassen, anstatt endlich Alen Halilovic zu bringen? Die vom FC Barcelona geholte Ausnahmebegabung wartet weiter auf das Vertrauen seines Chefs; auch diesmal durfte er nur noch 20 Minuten mitwirken. Wieso hat man den großartigen Flügelläufer Filip Kostic verpflichtet, wenn er im Strafraum keine Anspielstationen findet? Gegen Leipzig war Bobby Wood quasi unsichtbar, die Alternative Pierre-Michel Lasogga saß gesund samt Freundin und Mutter auf der Tribüne. Labbadias einzige Erklärung: "Es war keine Entscheidung gegen Pierre-Michel, sondern für die Spieler, die im Kader waren."

So blieb am Ende nur ein halbgeglücktes Debüt. Brasiliens Olympia-Goldmedaillen-Gewinner Douglas Santos deutete seine Fähigkeiten als linker Außenverteidiger zumindest an. Doch auch er wird nach diesem Spiel, das "Kopfkraft kostete" (Labbadia), geschockt gewesen sein über den Zustand seiner neuen Mannschaft. HSV-Chef Dietmar Beiersdorfer, der am Samstag abgetaucht war, hat tags darauf seinem früheren Mitspieler vor dem Spiel in Freiburg am Dienstag vorerst das Vertrauen ausgesprochen: "Bruno kann es schaffen. Er hat schon oft bewiesen, dass er eine Mannschaft kurzfristig wieder aufbauen kann." So ähnlich hatte sich übrigens auch mal Beiersdorfs Kollege Frank Baumann bei Werder Bremen über den Trainer Viktor Skripnik geäußert.

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