Hamburger SV:Das unfassbare Glück des HSV

Hamburg's Matthias Ostrzolek in action

In der Luft: Matthias Ostrzolek vom Hamburger SV.

(Foto: REUTERS)
  • Der Hamburger Punktgewinn auf Schalke ist umstritten, nachdem der Linienrichter ein Tor in der Nachspielzeit aberkannte.
  • Zuvor bewies Pierre-Michel Lasogga mit seinem ersten Saisontreffer gutes Timing.
  • Am letzten Spieltag hat der HSV nun den direkten Klassenerhalt in eigener Hand.

Von Philipp Selldorf, Gelsenkirchen

Der 14. Mai 1975 war ein Glückstag für den Hamburger SV. An jenem Tag wurde Heinz Schiffner in Konstanz Vater eines Jungen, der den Namen Thorsten erhielt und 15 Jahre später dem Vorbild seines Vaters folgte, indem er die Schiedsrichter-Prüfung ablegte. Was für ein Segen, so darf man jetzt beim HSV sagen, dass Schiffner senior einst seine Leidenschaft dem Fußball und dessen Regelbewahrung widmete.

Denn wenn er seinem Sohn stattdessen die Passion fürs Bergsteigen oder Segelfliegen vermacht hätte, dann gäbe es am nächsten Wochenende wohl kein Endspiel mehr für den HSV gegen den VfL Wolfsburg um den sicheren Klassenerhalt. Dann wäre die Relegation lediglich noch der letzte Ausweg vor dem direkten Abstieg, während der FC Ingolstadt noch immer auf eine Chance hoffen dürfte.

Für ein paar Momente befanden sich die Hamburger am Samstag in Gelsenkirchen tatsächlich in eben dieser verzweiflungswürdigen Lage: In der 94. Minute hatte Sead Kolasinac nach der Ecke von Johannes Geis einen Kopfball ins Hamburger Tor befördert. Während Schiedsrichter Markus Schmidt keine Anstalten machte, Einspruch zu erheben, spielte die Stadionregie die Tormelodie ein, "ein Leben lang in blau und weiß" ließ die Leute auf den Tribünen in Raserei verfallen, und Schalkes Trainer Markus Weinzierl rannte zur Feier des 2:1-Siegtreffers auf den Rasen, als hätte er niemals etwas Schöneres erlebt.

Die Hamburger Spieler dagegen konnten ihr Unglück nicht glauben. Eben noch hatten sie in einem nicht steigerbaren Freudenausbruch Pierre-Michel Lasoggas krummes Ausgleichstor bejubelt, und plötzlich waren sie dem Abgrund zur zweiten Liga wieder entscheidend näher gerückt. Doch dann kam Thorsten Schiffner ins Spiel.

Ein ganzes Stadion verliert die Fassung

Niemand weiß, ob der Linienrichter vom Bodensee lediglich eine Vision hatte, als Geis den Eckstoß trat. Es gibt keine Beweismittel, die seine Wahrnehmung bestätigen. Tatsache ist, dass Schiffner stracks seine Fahne hob und damit anzeigte, der Ball sei im Aus gewesen, bevor er in den Strafraum flog. Das hatte zunächst bloß niemand gesehen, weder der Referee Schmidt noch die Spieler aus Schalke und Hamburg. Niemand - außer HSV-Coach Markus Gisdol.

Dieser wies den vierten Offiziellen am Rand der Trainerbänke sofort auf den Einspruch des Linienrichters hin, und wenn es noch eines Beweises bedurfte hätte, dass Gisdol in der schwierigen und stets widersprüchlichen Lage des Hamburger SV den Überblick behält, dann ist diese Szene dafür genau die richtige gewesen. Ein ganzes Stadion verliert die Fassung, bloß Gisdol bleibt bei Verstand - man darf das absolut sinnbildlich verstehen.

"Die Gefühle schlagen Purzelbaum"

"Die Gefühle schlagen Purzelbaum", fasste er zusammen. Die Kunst ist, sich davon als Trainer nicht vereinnahmen zu lassen. Seit Gisdol am sechsten Spieltag ins Amt eintrat, betreibt er beim HSV ein Krisenmanagement unter extremen Anforderungen. Mancher sah ihn schon als gescheitert an, bis am 13. Spieltag der erste Sieg gelang.

Nach dem 0:8 in München holte sein Team in vier Spielen zehn Punkte, in den sechs Spielen danach aber nur noch vier Punkte. Eine Bilanz zum Verrücktwerden, aber Gisdol setzte sachlich seine Arbeit fort, so wie am aufregenden Samstag, als er das Drama spürte ("emotionale Momente, die man so schnell nicht vergisst"), aber mitten im Brausen und Tosen die Kontrolle behielt. Der Auftritt seiner Elf und der verdiente Punktgewinn bestätigten ihn: "Wir sind nie kopflos geworden und haben in der zweiten Hälfte immer mehr Druck aufgebaut", lobte Gisdol mit Recht.

Der HSV hat nicht gut Fußball gespielt, doch er hat nicht aufgehört, sich darum zu bemühen. Deswegen nahm das Spiel nach der Pause eine Wende. Bis dahin waren die Schalker unter der Regie von Nabil Bentaleb und Leon Goretzka spielerisch deutlich besser gewesen und durch Guido Burgstallers Kopfballtor folgerichtig in Führung gegangen. Vom 2:0 trennte den Österreicher nur ein Zentimeter auf dem Spann, als er den Abpraller nach Klaas-Jan Huntelaars Pfostentreffer aufnahm.

Die vielen Menschen, die der Meinung sind, dass der HSV jetzt endlich mal absteigen und seine alte Dino-Uhr demontieren sollte, dürfen darüber klagen, dass eine höhere Macht dem HSV immer wieder die nötigen Glücksmomente spendet. Beim Relegationsspiel in Karlsruhe war es vor zwei Jahren der Schiedsrichter Manuel Gräfe, der einen Freistoß gab, den sonst keiner gegeben hätte. In Gelsenkirchen kam der exzentrische Entscheid eines Linienrichters zur Hilfe, doch es waren die Hamburger, die sich mit Widerstandsgeist und großem Kampf gegen die Niederlage stemmten.

Typisch Lasogga

Die Angriffsmethoden trugen zwar tragikomische Züge, und man muss den HSV schon sehr mögen, um die grobklotzigen Taten des Verteidigers Sakai würdigen zu können, doch erstens stand eben jener immer eifrige Sakai im Weg, um das 2:0 durch Coke zu verhindern, und zweitens war der Ausgleich nach dem Dauerdruck auf Schalkes Strafraum einfach fällig.

Typisch war, wie ihn der eingewechselte Lasogga erzielte. Gisdol amüsierte sich: "Den Ball hat Pierre im Stile eines Torjägers gar nicht richtig getroffen - und der war dann drin." Dem verhinderten Torjäger, den er bisher nur im Notfall einsetzte, eine spöttische Bemerkung zu widmen und sie trotzdem freundlich klingen zu lassen - auch das hat der Trainer gut hingekriegt. Doch das wahre Endspiel kommt erst noch.

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