Hamburg:Späte Wucht

Bundesliga 15/16 - Hamburger SV vs. VfB Stuttgart

Letzter Akt in einem komplexen Spiel: Hamburgs Johan Djourou schießt das Tor zum 3:2-Endstand gegen VfB-Torwart Przemyslaw Tyton.

(Foto: Fishing4)

Plötzlich erhebt sich der HSV und ringt den starken VfB Stuttgart nieder. Die Schwaben zeigen keine Balance zwischen Dominanz und Abwehrverhalten.

Von Jörg Marwedel, Hamburg

Drumherum feierten sie, als sei die nach 14 Jahren wieder Volksparkstadion heißende Arena Schauplatz eines großen HSV-Spiels gewesen. HSV-Trainer Bruno Labbadia freute sich über die Maßen, dass seine Halbzeitprognose aufgegangen war, als er der Mannschaft trotz des 1:2-Rückstandes sagte: "Wir drehen das Spiel noch." Johan Djourou, Schütze des 3:2 in der 89. Minute, wollte nicht aufhören zu reden und hob den "großen Charakter" hervor, den sein Team gezeigt habe. Vergessen war, dass die Hamburger 60 Minuten lang gespielt hatten wie in den vergangenen zwei Jahren, als sie eigentlich in der Bundesliga nichts mehr zu suchen hatten. Im Volkspark schien ein "Genius loci" zu wohnen, ein Geist des Ortes, der allen Spielern, die einen Vertrag beim HSV unterschreiben, plötzlich ihr Talent nimmt.

Der Unterschied zu früher war: Man versucht endlich, eine Mannschaft zu werden, die trotz aller Unzulänglichkeiten nicht aufgibt. Und man traf auf einen VfB Stuttgart, der 54 Minuten lang das Spiel beherrschte mit Mut und Eigeninitiative und durch zwei Tore von Daniel Ginczek (23. und 42. Minute) verdient führte, dann aber nur noch zehn Spieler auf dem Feld hatte. Florian Klein musste nach zwei Fouls binnen 80 Sekunden an Ekdal und Ostrzolek mit Gelb-Rot den Platz verlassen. Am Ende waren die dezimierten Stuttgarter derart ausgepowert, dass sie die durch die eingewechselten Pierre-Michel Lasogga (2:2 in der 84. Minute), Ivica Olic (gab die Vorlage zum 2:2) und Nicolai Müller aufgeweckten Hamburger mit ihrer nun erstaunlichen Wucht nicht mehr kontrollieren konnten.

Stuttgart begeistert erneut - doch wieder reichen die Tore nicht

"Bitter", sagte der fassungslose VfB-Coach Alexander Zorniger, "sehr bitter." Dann schien er sich an die Bundeskanzlerin zu erinnern und sagte, sein extrem nach vorne verteidigender Stil sei trotz der zwei Niederlagen zum Auftakt "alternativlos". Schon zum vierten Mal innerhalb der vergangenen fünf Jahre steht der VfB nach den ersten beiden Spielen ohne Punkte da. Und doch ist da ein Kontrast zu den schläfrigen VfB-Teams der vergangenen Jahre. Torschütze Ginczek hat es so beschrieben: "Wir haben null Punkte, aber 150, 160 Minuten gut gespielt." Denn auch beim 1:3 gegen Köln in der Vorwoche hatte der VfB seine Fans begeistert. Nur die Tore fehlten.

Auch Sportdirektor Robin Dutt will "die Nerven bewahren". Man hatte Zorniger ja genau deshalb geholt, weil man einen neuen VfB erschaffen wollte. Das momentane Problem kommt jenem nahe, das auch Leverkusens Offensiv-Coach Roger Schmidt voriges Jahr in seiner Anfangsphase hatte: die Balance zwischen Dominanz und Abwehrverhalten stimmt noch nicht. Die von Daniel Didavi und Kapitän Christian Gentner bestens ins Spiel gebrachten Draufgänger Ginczek (echter Nationalelf-Kandidat), Martin Harnik und Filip Kostic sind nicht optimal abgesichert. Und als nach Kleins Platzverweis mit Daniel Schwaab und Carlos Gruezko zwei eher defensive Spieler kamen, wurde aus dem bis dahin perfekten Pressingfußball in den letzten zehn Minuten eine Abwehrschlacht. "Es war", so Dutt, "plötzlich ein anderes Spiel."

Auch deshalb hat Zorniger den Sportchef gebeten, für "mehr Tiefe im Kader" zu sorgen. Das bedeutet: Dutt soll bis Monatsende noch mal auf dem Transfermarkt tätig werden. "Mit 13, 14 oder 15 Feldspielern können wir das nicht durchziehen", sagt Zorniger über die Kunstform des Pressing- und Umschaltfußballs, man brauche mehr Breite. Beim HSV setzt man auf andere Dinge - etwa auf den "enormen Kampfgeist", den Labbadia entfacht hat. "Da ist noch keine Sicherheit, wir werden diese Saison kein Spiel locker gewinnen", sagt der Trainer realistisch. Der Kampfgeist soll ausgleichen, dass etliche Profis weiter nicht die erhoffte Leistung bringen. Emir Spahic, der die Abwehr mit seiner eher rustikalen Spielart stabilisieren sollte, hatte am 0:1 wegen eines Stellungsfehlers Anteil. Ginczek lief ihm locker davon. Andere, wie Lewis Holtby, Ostrzolek und Michael Gregoritsch, boten Slapstick-Einlagen, die ihrem gemeinsamen Ex-Klub VfL Bochum bestimmt nicht zur Ehre reichten.

Bedanken konnten sich die Hamburger bei Nachwuchsmann Gideon Jung, 20, der nach der Pause im Mittelfeld dirigierte, bei Ivo Ilicevic, der mit viel Schneid das 1:1 erzielte, bei Kapitän Djourou, der mit einem Pass sein eigenes Tor vorbereitete. Und natürlich bei Lasogga, der nicht nur mit dem Kopf für Djourou perfekt vorlegte, sondern beim 2:2 auch cleverer war als VfB-Keeper Tyton, der den Winkel nicht gut abdeckte. Dass Lasogga beim Jubel den Finger auf den Mund legte, um seine Kritiker zum Schweigen zu bringen, ist aber wohl nicht der richtige Weg. Selbstkritik wäre nach seiner jüngsten Formkrise die bessere Alternative. Labbadia, derzeit das positive Gesicht des gern verspotteten HSV, muss aber nicht nur auf diesem Gebiet tätig sein. Als ihn ein Journalist fragte, welche Überschrift er gern zum 3:2 lesen würde, antwortete er: "Soll ich Ihren Job auch noch machen? Ich habe schon genug zu tun beim HSV."

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