Halbfinale der Fußball-EM:Weltfußballer? Paul Pogba meint es ernst

Der Anspruch des jungen Franzosen an sich selbst ist gigantisch, die Wirklichkeit oft sehr mühsam. Wann, wenn nicht gegen Deutschland, wäre der richtige Zeitpunkt, diese Kluft zu überwinden?

Von Claudio Catuogno, Clairefontaine-en-Yvelines

Die Spitzhacke schweigt. Auch vor dem Spiel gegen die Deutschen. Jeden Tag schickt der Trainer Didier Deschamps einen anderen Spieler aus dem Hotel-Schlösschen der Franzosen hinüber in einen in den Berg gegrabenen Konferenzsaal, fast jeder war mal dran, auch der dritte Torwart, ein unterhaltsamer Mann, bloß halt der dritte Torwart. Der Stürmer Olivier Giroud war gerade zum zweiten Mal da. Was ist mit Paul Pogba? Weigert er sich? Ist er beleidigt? Ist er mal wieder beim Friseur?

Nein, nein, "er weigert sich nicht", hat Philippe Tournon, der Pressesprecher der Franzosen kürzlich klargestellt: "Aber der Trainer ist der Meinung, es ist nicht der richtige Zeitpunkt." Wann ist wofür der richtige Zeitpunkt? Eine große Frage im Leben des Paul Pogba, 23, den sie "la pioche" nennen, die Spitzhacke.

Wann ist der richtige Zeitpunkt zu verkünden, dass man einen neuen Typus Mittelfeldspieler erschaffen will? Wann ist der richtige Zeitpunkt zu verkünden, dass man mal der Größte aller Zeiten werden will, der nächste Weltfußballer? Und wenn man das unbedingt will - wäre dann nicht an diesem Donnerstag der richtige Zeitpunkt, auf mindestens galaktische Weise das EM-Halbfinale gegen die Deutschen zu entscheiden, am besten ganz allein?

Vor der Europameisterschaft hat Paul Pogba einige Interviews gegeben und war auf noch mehr Titelseiten. Er würde das Gesicht des Turniers werden, war überall zu lesen. Allerdings konnte man nicht mehr so recht auseinanderhalten, warum das alle glaubten: Weil Paul Pogba wirklich auf dem Weg ist, der Beste zu werden? Oder nur, weil er selbst immerzu davon sprach? Zum Beispiel im Interview mit L'Équipe: "Ich mag es nicht, die Nummer zwei zu sein", lautete die Überschrift. Bei elf Spielern in einer Mannschaft - ist es da eine Schande, die Nummer zwei zu sein?

Gemessen an viel zu hohen Erwartungen

Paul Pogba sprach in dem Interview darüber, wie wichtig es für ihn sei, sich immer die höchsten Ziele zu setzen: "Ich sage ja nicht, dass ich sie auch erreiche." Und auch wenn das schon wieder sehr nach Koketterie klang, Paul Pogba sagte auch: "Im Moment bin ich nichts." Aber das sind keine Sätze für Überschriften. Das Fußball-Magazin 98, dessen Name an das Jahr des französischen WM-Triumphs erinnert, ließ Paul Pogba schon mal im Stil einer Heldenstatue zeichnen und schrieb auf seinen Titel: "Pogboom! Der zukünftig beste Spieler der Welt." Als sei das schon klar.

Das Problem ist: An diesen Erwartungen wird Paul Pogba jetzt gemessen. Er zieht ja sowieso alle Blicke auf sich mit seinen 1,91 Metern, wenn er mit raumgreifenden Schritten das Mittelfeld durchmisst, Bälle erobert, Überraschungspässe schlägt oder - ohne sich die schlackernden Gliedmaßen zu verknoten - zum Dribbling ansetzt. Aber inzwischen kann man sich kein Spiel der Franzosen mehr ansehen, ohne sich die Frage zu stellen, ob Paul Pogba mindestens der Beste war.

In der Gruppenphase war er nie der Beste, im Gegenteil. Im Eröffnungsspiel gegen Rumänien (2:1) blieb er so wirkungslos, dass er gegen Albanien (2:0) erst mal zuschauen musste, gegen die Schweiz (0:0) hatte er eine atemraubende Viertelstunde, mehr nicht. Gegen Irland (2:1) und Island (5:2) wurde es besser, er bekam jetzt immer mehr Zugriff aufs Spiel. Aber Paul Pogba, das bleibt eben die selbstverschuldete Kluft zwischen Giganten-Anspruch und der manchmal doch sehr mühsamen Wirklichkeit. Auch deshalb ist es dem Trainer Deschamps gerade lieber, wenn Pogba nicht mit der Presse spricht. Weil immer die Gefahr droht, dass Gräben aufreißen, an denen Pogba allerdings selbst eifrig mitgegraben hat durch seinen ständigen Versuch, bloß nicht gewöhnlich zu sein.

Der Vorherbestimmte

"Es ist wichtig, dass man ihn wie eine Person und nicht wie eine Persönlichkeit behandelt", sagt Deschamps. Das geht aber längst nicht mehr. Sambou Tati, Pogbas Jugendtrainer beim Pariser Vorstadtklub US Roissy, hat im Sender Eurosport kürzlich einen Lagebericht von der Basis geliefert: "Hier will jeder wie Paul Pogba sein, bis hin zur Frisur", sagte er: "Paul ist eine Ikone, ein Idol. Die Kids reden von nichts anderem mehr als von ihm."

Frisurentechnisch ist es noch relativ einfach, wie Pogba zu sein. Man muss sich alle paar Tage ein neues Muster in die Schläfen rasieren und färben. Im Eröffnungsspiel zierte sein Haupt ein gallischer Hahn. Pogbas Weg ist schon schwerer zu kopieren: mit 16 von Le Havre in die Jugend von Manchester United und dann weiter zu Juventus Turin. Und sein Talent gibt es so vielleicht wirklich kein zweites Mal. In Italien haben sie für Alleskönner wie ihn einen Begriff aus dem eher semi-weltlichen Bereich: predestinato. Vorherbestimmt.

"Sir Alex verdanke ich gar nichts"

Mit dem Wirbel muss man halt leben. In Manchester kam er kaum zum Zug, und als sein Vertrag auslief, rief er der Trainerlegende Alex Ferguson hinterher: "Sir Alex verdanke ich gar nichts." Darauf Ferguson: "Es wäre mir am liebsten, Pogba wäre weit weg." Da ist es nicht ohne Ironie, dass sich United jetzt wieder um ihn bemüht. In England heißt es, Ed Woodward, der Exekutivdirektor, habe bereits Kontakt aufgenommen, und in Italien heißt es, Juve sei nicht abgeneigt, Pogba trotz eines Vertrages bis 2019 ziehen zu lassen. Ab einer gewissen Summe natürlich. So um die 100 Millionen Euro. Einen Jugendlichen in Le Havre zu entdecken und ihn jetzt für 100 Millionen noch mal zu kaufen: Den Vorwurf, normal zu sein, müsste Pogba nicht fürchten, käme es dazu. Eigentlich würde er aber lieber zu Real Madrid.

Und bei aller Exzentrik: Wer mit Pogba zu tun hat, der preist neben seinem Talent vor allem seine Professionalität. Eigener Ernährungsberater, eigener Koch, und jede Menge Extraschichten. Doch, er meint das mit dem Weltfußballer ernst. Er sollte sich halt bloß nicht immer einreden, er müsse auf dem Platz alles besonders spektakulär machen. "Paul, joue simple", ruft der Trainer Deschamps seiner Spitzhacke häufig zu. Spiel einfach!

Spitzhacke, den Namen haben ihm seine zwei Drillingsbrüder gegeben. "La pioche" ist eine Figur in einer Fernsehserie, die sie früher gern gesehen haben. Sie hüpft herum und macht die ganze Stadt platt. Das Bild, findet Paul Pogba, passt doch super zu ihm.

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