Griechenland:Einfach weiter per Autopilot

Griechenland gelangt mit taktischen Mitteln ins Finale, die im modernen Fußball als antiquiert gelten.

Von Ronald Reng

Porto - Auch Stelios Giannakopoulos weiß, dass am morgigen Sonntag in Lissabon ein EM-Finale stattfindet. Er hat nur noch nicht ganz verstanden, was er dort macht. "Ich versuche gerade zu realisieren, was passiert ist", sagte der griechische Mittelfeldspieler.

Er war nach dem 1:0 nach Verlängerung im Halbfinale gegen Tschechien am Donnerstag länger als alle Mitspieler in der Umkleidekabine im Stadion des Drachens in Porto geblieben. Als er schließlich in die Nacht trat, war er noch immer nicht in der Realität angekommen.

Er konnte nicht mal mehr richtig lachen vor Freude; er konnte nur noch staunen. "Wir reden hier nicht mehr von einer Überraschung", sagte er, "wir reden von einem Traum."

Man muss die Worte nur einmal aussprechen, sie klingen zwei Tage nach dem Triumph von Porto noch immer surreal: Griechenland im EM-Finale. Eine Fußballnation, die sich zuvor nur zweimal für die Endrunde eines großen Turniers qualifiziert hatte und dort sowohl bei der EM 1980 wie bei der WM 1994 ohne Sieg blieb, überwindet auf einmal alle Favoriten: Portugal und Spanien in der Vorrunde, dann Frankreich, nun Tschechien.

Man muss die bescheidene Geschichte des griechischen Fußballs ignorieren, man muss sich von all den in Jahrzehnten angesammelten Weisheiten über die chaotische griechische Nationalelf lösen - und dann, wenn man nur darauf schaut, wie diese Elf unter ihrem deutschen Trainer Otto Rehhagel in Portugal spielt, erscheint es einem auf einmal gar nicht so unlogisch, dass Griechenland nun im Endspiel den Gastgeber herausfordert.

Falls irgendwer ernsthaft argumentieren will, ihr traumhafter Vorstoß ließe sich mit Glück erklären - er ist dabei, sich lächerlich zu machen. "Wir sehen den gleichen Film wie bei der EM 1996", sagt ihr nimmermüder Stürmer Angelos Charisteas von Werder Bremen: "So wie Deutschland damals Europameister wurde, so spielen wir auch."

Im vollen Bewusstsein, wo ihre Grenzen liegen

Der erste Instinkt ist natürlich, anzumerken, dass damals Sammer und Klinsmann die deutsche Mannschaft führten und Charisteas seine Elf doch wohl nicht mit jenem Team vergleichen wolle. Mit etwas Abstand versteht man, was er meint.

So wie damals Deutschland spielen die Griechen im vollen Bewusstsein, wo ihre Grenzen liegen. Was misslingen könnte, versuchen sie gar nicht erst. Sie haben keine Hemmungen, banal auszusehen, sie kennen keine Skrupel, die radikale Manndeckung anzuwenden, die in der modernen Fußball-Lehre längst als stalinistisch verschrien sind. "Zu gewinnen - das ist moderner Fußball", kontert Charisteas, und man ahnt, wo er den Spruch her hat.

Erinnerung, wie Fußball einmal war

Ihren Trainer hört man nur solche Sachen sagen; seit 30 Jahren. Dieses Team ist eine Erinnerung daran, wie Fußball einmal war.

Michalis Kapsis und Georgios Seitaridis, Letzterer eigentlich ein innovativer Außenverteidiger, nahmen die tschechischen Stürmer in Einzelhaft, als ob die Raumdeckung noch nicht erfunden sei. Weit hinter ihnen gab Traianos Dellas, ein Hüne von 1,97 Metern, den Libero mit minimalem Laufpensum und majestätischem Laissez-faire, für das im hochgeschwinden Fußball gar kein Platz mehr sein sollte; wenn er Pässe schlug, legte er sich ins Beckenbauersche Hohlkreuz. Einmal schritt er gegen Tschechien nach vorne und besorgte per Kopf das einzige Tor des Abends.

Dieses Team ist aber vor allem eine Erinnerung, wie alle - Trainer, Experten, Zuschauer - neue taktische Moden zu schnell als die ultimative Heilsbringung ansehen. Der Libero sei ein unnötiger Kropf, heißt es, ein verschwendeter Mann, der im Mittelfeld fehle, der es schwieriger mache, auf Abseits zu spielen?

Nun, der Libero Dellas liefert etwas, was ja immerzu als ganz modern gilt: Vorzügliche Pässe aus der Abwehr zum Spielaufbau. Der klassische Manndecker sei ein primitiver Holzhacker, den der gegnerische Stürmer leicht auf die Flügel locken und so Raum für vorstoßende Mittelfeldspieler öffnen könne?

Jan Koller, Tschechiens kolossaler Stürmer, verkroch sich Mitte der zweiten Halbzeit in der eigenen Spielhälfte, es war wie eine Aufgabe: Er wollte nur noch weg von Manndecker Kapsis, diesem Herkules.

Das Faszinierende ist, dass der defensive Fußball der Griechen in seiner Beschränktheit noch nicht einmal hässlich ist. Sie spielen selten, aber dann flüssig, schnell, technisch sauber nach vorne. Ihr Mittelfeld, allen voran Kapitän Theodoros Zagorakis, weiß, wie man den Ball gut behandelt.

Wie können sie nur auf einmal so gut sein?

Acht Spieler des Teams arbeiten im Ausland, Dellas etwa bei AS Rom, Zagorakis spielte mal bei Leicester City; außer Außenverteidiger Panagiotis Fyssas bei Benfica Lissabon ist keiner je über eine Statistenrolle hinausgekommen. Wie können sie nur auf einmal so gut sein?

Traianos Dellas, der Franz-Beckenbauer-Gedenkspieler, hat verstanden, dass sie nicht anfangen dürfen, über die eigentliche Unmöglichkeit ihres Erfolgs nachzudenken. So lange sie per Autopilot einfach weitersteuern durch ihren Traum, werden sie auch im Finale eine gute Chance haben.

Also antwortete Dellas auf die Frage, weshalb er, gescheitert in Sheffield, Ersatz in Rom, plötzlich wie Weltklasse aussehe: "Ja, dazu möchte ich sagen: Griechenland richtet in diesem Jahr auch noch die Olympischen Spiele aus, und ich bin mir sicher, das kriegen wir auch fantastisch hin."

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