Görges und Kerber in Wimbledon:Fassungslos und titelreif

Day Eight: The Championships - Wimbledon 2018

Julia Görges: Erstarrt vor Glück

(Foto: Getty Images)
  • Zum dritten Mal in der Zeit der Open Era stehen mit Julia Görges und Angelique Kerber zwei deutsche Frauen in einem Grand-Slam-Halbfinale.
  • Diese Wimbledon-Ausgabe hat sich für Kerber als Wundertüte entpuppt, zumindest in der Wahrnehmung war sie nicht gemütlich, sondern unauffällig durch die Runden geglitten.
  • Julia Görges steht zum ersten Mal überhaupt im Halbfinale, gegen Kiki Bertens erwischt sie keinen optimalen Start und muss Kämpferqualitäten zeigen.

Von Gerald Kleffmann, Wimbledon

Das Wetter, um mit dem Wichtigsten zu beginnen, war gekippt. Nach acht Tagen Hitze und Trockenheit war es abgekühlt, Wolkenfetzen hingen über dem All England Club. Dass die feine Gesellschaft auch nur eine menschliche Gesellschaft ist, ließ sich daran erkennen, dass auch sie sich in wärmere Kleidung mümmeln musste. An Prominenz mangelte es natürlich nicht, diesmal standen etwa Vanessa Redgrave, Baron Richards of Herstmonceux sowie zwei Scheichs der Al-Nahyan-Familie auf der Gästeliste der Royal Box. Kate und William, das Herzogspaar von Cambridge, war aus gutem Grunde entschuldigt, denn ihr drittes Kind, Prinz Louis, wurde an diesem Dienstag getauft, eine erwärmende Nachricht inmitten der vielen Brexitzoff- und Regierungsauflösungsmeldungen, die England gerade erdrücken.

Von alldem hatte Angelique Kerber wenig mitbekommen, die deutsche Tennisspielerin hatte zuvor glaubwürdig versichert, "nicht links und rechts" zu schauen, was um sie herum passiere. Sie hatte sich wieder den Tunnelblick zugelegt. So muss es tatsächlich sein, denn die 30-Jährige spielt bei dem berühmtesten Tennisturnier der Welt gerade, abgesehen von ein paar leichten Schwankungen, vorzügliches Tennis.

Wie auch eine zweite Deutsche, die nun überraschend ebenso Großartiges vollbracht hat. Denn sowohl Kerber als auch Julia Görges, die 29-Jährige aus Bad Oldesloe, stehen im Halbfinale von Wimbledon. Es ist erst das dritte Mal in der "Open Era", der Profizeit seit 1968, dass zwei deutsche Frauen im Grand-Slam-Halbfinale sind. 1990 gelang dies Steffi Graf und Claudia Porwik bei den Australian Open, 1993 Graf und Anke Huber bei den French Open. Ein deutsches Finale gab es 1931 in der Amateurzeit zwischen Cilly Aussem und Hilde Krahwinkel (6:2, 7:5).

Wimbledon als Wundertüte

An diesem Dienstag war Kerber die Erste der beiden Deutschen, die erfolgreich war. Sie bezwang in der Russin Darja Kassatkina bereits die fünfte Gegnerin in Wimbledon, am Ende war es ein leidenschaftlicher Kampf, "ich hatte das Gefühl, ich bin überall auf dem Platz unterwegs gewesen", sagte Kerber. Nach einem für alle Anwesenden atemraubenden Ballwechsel brandete der Jubel fast so laut auf, als hätte Englands Fußballteam schon wieder ein WM-Tor erzielt. Sieben Matchbälle benötigte Kerber; Kassatkina, die sich selbst als "verrückt" privat und als "Künstlerin" mit Schläger bezeichnete, war zäh. Aber diese Kerber ist zäher. Sie fabrizierte nur 14 leichte Fehler, gar nur zwei im ersten Satz, und steht nach dem 6:3, 7:5 in 1:29 Stunden im Halbfinale. Am Donnerstag trifft sie auf die Lettin Jelena Ostapenko, 21. Die French-Open-Siegerin von 2017 setzte sich mit ihrem Hit & Fire-Spiel 7:5, 6:4 gegen die Slowakin Dominika Cibulkova durch.

Diese Wimbledon-Ausgabe hat sich für Kerber als Wundertüte entpuppt, zumindest in der Wahrnehmung war sie nicht gemütlich, sondern unauffällig durch die Runden geglitten. Inzwischen sollte es ja zum Allgemeinwissen jedes Tennisliebhabers gehören, dass Kerber, zweimalige Grand-Slam-Gewinnerin und Ex-Nummer eins, genau diese Rolle bevorzugt: ein wenig die anderen tänzeln zu lassen, um diese dann willensstark zu überrumpeln.

Görges zeigt keine Beißhemmungen

Nun allerdings strahlt das Rampenlicht wieder grell auf sie, wofür schon Fakten sprechen. Nachdem zum ersten Mal keine Spielerin der Top Ten in der Runde der letzten Acht stand, war Kerber schon vor dem Viertelfinale die ranghöchste verbliebene Gesetzte gewesen, als Elfte. Die Statistiker registrierten überdies: Kerber ist die einzige Spielerin, die in 2018 bei den drei bisherigen Grand Slams jeweils die zweite Woche erreicht hat. An ihrer Konstanz vor allem wollte Kerber nach ihrem inkonstanten Jahr 2017 arbeiten. Nun hat sie die erfreuliche Quittung dafür erhalten.

Wobei sich manche nicht von Fakten täuschen lassen wollten. Die 23-malige Grand-Slam-Gewinnerin Serena Williams, 36, die nach Kerbers Match gegen Camila Giorgi antrat und nur knapp gewann, sagte: "Technisch ist für mich eine aus den Top-Ten im Turnier." Sie meinte Kerber. Die beiden kennen sich gut, im Jahr 2016 waren sie sich in Grand-Slam-Finals begegnet. In Melbourne hatte Kerber gesiegt, in Wimbledon die Amerikanerin.

Ihr drittes Halbfinale in Wimbledon und ihr siebtes bei einem Grand Slam erreichte Kerber mit einer Herangehensweise, die zunächst banal klingt. "Ich wollte Punkt für Punkt spielen", das sagte sie wirklich nach jedem Einsatz. Man konnte darauf wetten. Sie mag nicht so witzig und unterhaltsam wie Kassatkina sein, die vor dem Viertelfinale freimütig erzählt hatte, wie sie mit zwölf Jahren in einem Zimmer den Tweener, den Schlag durch die Beine beim Rückwärtslaufen, geübt habe - stundenlang. Aber das, was Kerber kann, ist für den Beruf effektiver. "Ich versuche, mich immer wieder auf den Moment zu konzentrieren", hatte sie erklärt. Das habe ihr oft geholfen, "im Hier und Jetzt" zu bleiben und einen schlechten Schlag zuvor oder eine nahende Drucksituation zu verdrängen. "Das ist ein Prozess, den man sich antrainieren muss", erklärte sie und konstatierte lächelnd: "Bei mir hilft's."

Nach dem Match gegen die pfiffige Kassatkina, die zuvor dreimal gegen die Kielerin gewonnen hatte, sagte Kerber, sie habe in der engen Phase am Ende nicht an den Spielstand gedacht. Doch als die letzte Vorhand der Nummer 14 der Welt im Netz gelandet war, wusste Kerber: Jetzt konnte sie jubeln. Sie rief laut: "Come ooooon!"

Görges war im zweiten Stadion im Einsatz, dem Court 1, ihre Aufgabe war nicht nur sportlich knifflig. "Es ist nie leicht, gegen eine Freundin zu spielen", bekannte sie nach ihrem 3:6, 7:5, 6:1-Sieg gegen Kiki Bertens. Mit der Niederländerin versteht sie sich bestens, aber an fehlender Beißhemmung lag es nicht, dass Görges nicht optimal gestartet war. "Ich hatte leider meine Chancen nicht genutzt", sagte sie, als sie sich wieder gesammelt hatte. Im ersten Moment, als der erste Matchball verwandelt gewesen war, hatte sie fassungslos den Schläger fallen gelassen und zu ihrer Box hochgestarrt. Dort standen Trainer Michael Geserer sowie ihr Fitnesscoach/Physio und Freund Florian Zitzelsberger. Görges hat in ihrem 42. Grand-Slam-Turnier erstmals nun nicht nur das Viertelfinale, sondern gleich dazu das Halbfinale erreicht. Dort ist Williams ihre Gegnerin, die die Deutsche im Juni in Paris besiegte.

Doch es sei "eine tolle Gelegenheit, hier gegen Serena zu spielen", sagte Görges, "jedes Match fängt bei Null an". Es gibt 2018 wirklich zwei deutsche Frauen, denen in Wimbledon der Titel zuzutrauen ist.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: