Gladbacher Serie:Gruß in die Berge

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Lucien Favre dürfte sich vom 3:1 seiner Gladbacher in Stuttgart bestätigt fühlen. Der Spielverlauf zeigt, dass der Fußball sich dem Einfluss der Trainer manchmal entzieht.

Von Christof Kneer, Stuttgart

Das wäre eine schöne Schalte, wie das in der Fernseh-Fachsprache heißt: Der Moderator kündigt im Studio ein Interview an, Schnitt, ins Bild rückt eine Bergkulisse, Schnitt, und dann schwenkt die Kamera auf einen schmalen Mann, der sich vor der Bergkulisse umständlich einen Knopf ins Ohr nestelt. Der Mann wirkt freundlich und etwas zerstreut, aber in präzisem Singsang erklärt er dann das Unerklärliche: Warum Borussia Mönchengladbach mit 3:1 in Stuttgart gewonnen hat.

Lucien Favre wäre ein wundervoller Fernsehexperte, er würde dem Spiel Seiten abgewinnen, die selbst dem Spiel noch unbekannt sind. Favre würde auch beim Spiel in Stuttgart Szenen finden, in denen Granit Xhaka den Ball mit links statt mit rechts annimmt, und als siegbringend würde er vielleicht eine Szene werten, in der Xhaka vor der Ballmitnahme mit dem Fuß nicht fest auftritt, sondern leicht tänzelt.

Es wäre untertrieben zu behaupten, dass Favre etwas für Details übrig hat. Aus solchen Details baut er sich vielmehr das ganze Spiel zusammen, und dass dieser Ansatz nicht lächerlich ist, kann jeder an der Entwicklung von Borussia Mönchengladbach sehen. Die Elf war in den vergangenen Jahren auch deshalb so erfolgreich, weil sie so viel vom Spiel verstanden hat.

Es war wie beim Kick auf dem Pausenhof - die einen gaben den anderen zwei Tore Vorsprung

Es gibt aber Phasen, in denen sich das Spiel kein bisschen um Details schert und sich nur der Wucht der Emotionen unterwirft. Vielleicht kann man nachträglich behaupten, dass der Akademiker Favre auch diese Emotionen mit einberechnet hat bei seiner Rücktritts-Entscheidung. Fürs Erste hat dieser merkwürdige Mensch seinen (ehemaligen) Spielern tatsächlich einen Gefallen getan: Sie haben in ein paar Tagen zwei Siege geholt und dabei irgendwie befreit und viel weniger kopflastig gewirkt.

Favre war der Trainer des Jahres, jetzt ist er der Trainer der Woche. Er hat in der Schweizer Heimat Gladbachs Siege gegen Augsburg und Stuttgart gesehen und sich bestätigt gefühlt. Neben allen Verdiensten ist er jetzt auch der Trainer, der mit seiner Elf am siebten Spieltag den Klassenerhalt geschafft hat - allein dadurch, dass er sie fachkundig im Stich gelassen hat.

Das Spiel in Stuttgart war ein kleiner Gruß in die Berge. Das Spiel zeigte, wie Fußball auch funktionieren kann, wenn er sich von Favres geliebtem akademischen Ansatz abkoppelt. So gab es zum Beispiel keinen sinnvollen Grund, warum die Stuttgarter den Gästen zwei frühe Tore schenkten. Es war ein bisschen wie auf dem Schulhof, wenn die Größeren den Kleineren beim Pausenkick zwei Tore Vorsprung geben - mit dem Unterschied, dass die Stuttgarter sich so absurde Großzügigkeiten nicht erlauben können. "Natürlich ein Quäntchen Glück" erkannte dann auch Gladbachs Manager Max Eberl in dem schicken Auswärtssieg, der auf zwei Kopfballtoren von Granit Xhaka (16.) und Patrick Herrmann (20.) basierte. Beim ersten Tor waren Stuttgarts Verteidiger inklusive Torwart Tyton in etwa so weit weg vom Geschehen wie Lucien Favre in seinen Bergen; beim zweiten Tor war es Christian Gentner, der den Ball ins eigene Tor lenkte, womöglich, weil er mit dem Fuß zu fest auftrat und nicht tänzelte (Anmerkung für Lucien Favre).

Favre weiß aus langjähriger Erfahrung, dass im Fußball manchmal Kräfte wirken, die man auch im besten Trainerlehrgang nicht zu berechnen lernt. Nach dem Spiel saßen also zwei Jahrgangsbeste auf dem Pressepodium und wussten nicht recht, wie ihnen geschah. Gladbachs André Schubert, Spitzenabsolvent des Trainerlehrgangs 2004, versuchte gar nicht erst zu erklären, warum seine Elf mit null Torschüssen vorübergehend 2:0 vorne lag; er lobte die kämpferische Hingabe und vorübergehenden Mutanfälle seiner Profis, aber viel mehr Gründe fielen ihm nicht ein für diesen Sieg. Sein Nebensitzer fand zwar genügend Gründe für das Endergebnis von 1:3, aber er verstand die Gründe nicht recht, weshalb sich Stuttgarts Alexander Zorniger, der Klassenprimus des Lehrgangs 2012, wieder in vertraute Floskeln flüchten musste: Hinten zu einfache Fehler, vorne zu viele Chancen nicht genutzt - solche Sätze kann Zorniger mittlerweile auswendig, und sein Sportchef Robin Dutt empfahl den Reportern, die Aufzeichnungen vom letzten Heimspiel gegen Schalke (0:1) zu nutzen: "Dann können Sie der Einfachheit halber meine Antwort von da rausholen."

Die beiden Lehrgangsbesten erleben gerade ein Praxissemester, auf das sie niemand vorbereitet hat. Der eine, André Schubert, gewinnt alles und ahnt höchstens, warum das so ist. Der andere, Alexander Zorniger, verliert (fast) alles und fühlt sich dennoch trotzig im Recht.

Der Trainer Zorniger sei "nicht Teil des Problems, sondern Teil der Lösung", hat Robin Dutt später gesagt. Für den Trainer Schubert gilt das einstweilen umgekehrt; er hat zwar ein paar Lösungen gefunden, aber die Trainerfrage bleibt in Gladbach das zentrale Problem. Immerhin haben Schuberts schnelle Siege dem Sportchef Eberl genügend Ruhe bei der Suche verschafft, die Elf nimmt Schuberts kleine Akzentverschiebungen im Moment dankbar auf. Nach einem Gespräch mit dem Mannschaftsrat hat Schubert die Rückkehr zu einer Spielweise in Auftrag gegeben, die die Elf eigentlich schon hinter sich hatte. Unter Favre hat die Borussia eher die Passwege des Gegners zugeparkt und sich dann an reifem Kombinationsspiel versucht; unter Schubert attackiert sie den Gegner lieber gleich selbst. Die Spieler stehen weiter vorn als zuletzt und vertrauen darauf, dass entweder gleich die ersten Schüsse reingehen (wie gegen Augsburg) oder der Gegner der VfB Stuttgart ist, der sich seine tödlichen Wunden selbst beibringt.

Wie lange Schubert noch auf der Bank sitzen wird, sagt Max Eberl nicht, er weiß es ja selbst noch nicht. Er sucht den perfekten Kandidaten, und wenn der erst ab Sommer verfügbar wäre, könnte Schubert sogar die Saison zu Ende coachen. Wie lange der andere Lehrgangsbeste noch auf der Bank sitzt? Zu vermuten steht, dass Robin Dutt das im Moment auch nicht weiß.

© SZ vom 28.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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