Fußball-EM:"Je größer Italiens Probleme, desto stärker die Elf"

Fußball-EM: "Du spielst. Und deckst Rummenigge." Das war vor dem WM-Finale 1982 die Anweisung des Trainers Enzo Bearzot an den Schnurrbartträger Giuseppe Bergomi (r.).

"Du spielst. Und deckst Rummenigge." Das war vor dem WM-Finale 1982 die Anweisung des Trainers Enzo Bearzot an den Schnurrbartträger Giuseppe Bergomi (r.).

(Foto: imago)

Giuseppe Bergomi, italienischer Weltmeister von 1982, lobt im SZ-Interview den Stolz der Squadra Azzurra. In Strategiefragen mache dieser Auswahl niemand was vor.

Interview von Javier Cáceres

Giuseppe Bergomi, 52, ist einer dieser wenigen Profis, die ihre komplette Karriere bei einem einzigen Klub verlebten. Er debütierte 1980 im Alter von 18 Jahren bei Inter Mailand und wurde damals von einem der Veteranen der Mannschaft, Gianpiero Marini, wegen seines Oberlippenbarts mit einem Spitznamen versehen, Zio, Onkel, weil er so alt und reif aussah wie Marinis Onkel. Bergomi trat 1999 bei Inter ab, nach zwei Meistertiteln, drei Uefa-Cup-Siegen, insgesamt 81 Länderspielen (sechs Tore) - und dem Weltmeistertitel 1982, errungen im Finale gegen Deutschland.

SZ: Herr Bergomi, Deutschland gegen Italien: Sie könnten noch Erinnerungen haben an das sogenannte "Jahrhundertspiel", das WM-Halbfinale 1970 in Mexiko. Obwohl: Sie waren damals erst sechs.

Bergomi: Trotzdem, dieses 4:3! Für uns Italiener ist es die historische Begegnung schlechthin. Die Anekdoten, die Bilder, die Hitze. Italiens Führung, die ausgerechnet Schnellinger, der damals beim AC Mailand spielte, in der letzten Minute ausglich, der verletzte Beckenbauer, der mit einem Schulterverband weiterspielte, die Führung durch Gerd Müller, das 2:2 durch Burgnich, der insgesamt nur zwei Tore für Italien geschossen hat, nicht mehr. Danach Riva, wieder Müller, schließlich das Siegtor von Rivera . . . - es war ein Spiel, das eine unbeschreibliche Freude über unser Land und unseren Fußball brachte.

Das erschöpfte Italien verlor allerdings das Finale gegen Brasilien mit 1:4. Deshalb dürfte Ihre Freude 1982 noch viel größer gewesen sein: Im WM-Endspiel im Madrider Bernabéu-Stadion siegte Italien gegen Deutschland 3:1 - und Sie standen in der Startelf, mit erst 18 Jahren.

Ich weiß noch, wie Marco Tardelli am Abend vorm Finale zu mir kam und sagte: "Guarda, tranquillo, mach' dir keine Gedanken, morgen musst du nur diesen Blonden decken." Dieser Blonde war Rummenigge! Am nächsten Tag sagte unser Trainer Enzo Bearzot dann tatsächlich zu mir: "Du spielst. Und deckst Rummenigge."

Karl-Heinz Rummenigge galt als einer der besten Stürmer der Welt. Nervös?

Wenn du so jung bist, bist du dir der Tragweite des Augenblicks noch nicht bewusst. Jedenfalls lief es gut - wobei ich sagen muss, dass Rummenigge nicht topfit war. Das ändert nichts daran, dass wir eine großartige Partie geliefert haben, in der mir die Kameraden sehr geholfen haben.

Es war der Abschluss einer WM, bei der Italien überraschend das Argentinien von Diego Maradona und das große, kunstvolle Brasilien ausschalten konnte.

In der Vorrunde wurden wir nach drei Remis gegen Polen, Peru und Kamerun nur wegen der besseren Tordifferenz Gruppenzweiter. Danach kamen die Spiele gegen Weltmeister Argentinien, mit Maradona, Passarella, Olguín, Gallego, Galván, Bertoni, Díaz. Und gegen die Brasilianer, bei denen zwar Careca fehlte, aber da waren immer noch Toninho Cerezo, Falcão, Sócrates, Júnior, Éder, Zico. Was für Namen! Was für Mannschaften! Beide waren stärker als wir. Aber wir reagierten damals so wie Italien heute bei dieser EM.

Inwiefern?

Keiner räumte uns eine Chance ein, und dann haben wir unseren ganzen Stolz hervorgekehrt. Alles, was in uns war. Natürlich auch den Fußball, den wir spielen können, der auf Organisation fußt, auf Aufmerksamkeit - und einer taktischen Intelligenz, die anderen Nationalteams fehlt.

Es gab damals viel Lärm um Ihre Mannschaft, ähnlich wie vor der WM 2006, bei der Italien ebenfalls den Titel gewann. Ihr Mittelstürmer Paolo Rossi hatte gerade eine zweijährige Sperre wegen Spielmanipulation hinter sich. Kann es sein, dass die Squadra Azzurra einen Hang zum Masochismus hat? Braucht sie Probleme, um zu triumphieren?

Si, si, si! 1982 hatten wir den Silenzio Stampa, den strikten Presseboykott. 2006 gab es Stimmen, die sagten, wir sollten gar nicht erst zur WM fahren, weil es in Italien den Manipulationsskandal gab. Es ist wirklich so: Je größer das Problem, desto kompakter wird Italien, desto mehr gibt die Mannschaft das Beste, das sie in sich trägt.

"Conte bringt alle dazu, an seine Methode zu glauben"

Die Schwierigkeiten bestanden vor dieser EM vor allem in der Skepsis von Presse und Publikum, die sich durch Verletzungen von Stammkräften wie Claudio Marchisio und Marco Verratti noch steigerte.

Wir Italiener neigen dazu, uns von Namen abhängig zu machen. Zurzeit haben wir vor allem in der Offensive nicht so viele große Namen, anders als Deutschland, Frankreich oder sogar die Engländer, die auch Spieler ins Schaufenster stellen können. Wir Italiener müssen stets begreifen, dass wir bei diesen Turnieren erst mal die Gruppenphase überstehen müssen. Unsere Spiele sind selten spektakulär, aber nach und nach kommt dann zur Geltung, dass wir taktisch intelligent sind und gut auf dem Rasen stehen. Der große Unterschied zu anderen Nationalmannschaften, Trainern und Spielern ist, dass sie ihr Turnier nicht entwickeln. Wir können das. Und dann kommt die Qualität unserer Spieler zum Tragen, die großartig ist.

In solchen Situationen kommt es auf den Anführer an. Bei dieser EM heißt er offenbar Antonio Conte.

Er ist ein außergewöhnlicher Trainer, der beste, den wir derzeit in Italien haben. Er hat es geschafft, eine unglaubliche Mentalität, eine fußballerische Kultur zu erschaffen. Man glaubt es kaum, aber dieses Italien spielt wie eine Klubmannschaft.

Wie ist Conte das gelungen?

Er vermag es, Situationen zu schaffen, die die Gruppe dazu bringen, im Zweifelsfall gegen das gesamte System anzukämpfen. Er bringt alle dazu, an seine Methode zu glauben, an sein Projekt: sich dafür hinzugeben, sich vernünftig zu ernähren, zu glauben, dass alle stark sind. So hat er eine Mentalität geschaffen. Auf dem Platz sieht man klar, was sie wollen. Hinzu kommt: Italien spielt auch guten Fußball.

Xavi Hernández, der frühere Spielmacher des FC Barcelona und der spanischen Nationalelf, sagte der Gazzetta dello Sport, Italien sei eine Mischung aus dem FC Barcelona und Atlético Madrid. Stimmen Sie zu?

Italien ähnelt Barcelona nur wenig. Italien ist eher wie Atlético. Italien verteidigt stark und sucht sofort die Vertikalität, um dem Gegner Schaden zuzufügen.

Gegen Spanien hat Italien vor allem in der ersten Halbzeit ein strategisch fast perfektes Spiel geliefert. Deutschland ähnelt zumindest im Angriffsspiel den Spaniern.

Nicht ganz. Die Deutschen sind physischer, laufstärker und sie kommen besser zurecht, wenn sie den Ball nicht haben. Das ist der Aspekt, der für Italien den schwierigsten Unterschied zum Spanien-Spiel ausmachen wird. Iniesta, Fabregas, Silva oder Busquets hatten große Schwierigkeiten in der Rückwärtsbewegung; sie machten auf mich auch nicht den Eindruck, eine Einheit zu sein, die im Kopf gehabt hätte, gemeinsam ein Ziel zu verfolgen. Anders als Deutschland.

Was ist da anders?

Die Deutschen haben eine andere Opferbereitschaft. Spieler wie Müller, Özil, Gomez, sogar Draxler gehen hinterher, helfen sich gegenseitig. Zudem sind sie nicht so sehr vom Ballbesitz abhängig. Sie haben zwar schon viel gewonnen, aber sie haben Ehrgeiz, sie werden versuchen, das Spiel zu machen, ganz klar. Denn die Deutschen sind sehr stolz; sie glauben, dass sie stärker sind. Aber sie respektieren den Gegner. Joachim Löw respektiert Italien, er weiß, dass Italien schwer zu bespielen ist. Ich weiß nicht, ob die Spanier das verinnerlicht hatten. Sie haben nie ihre Haltung geändert, sie haben nichts auf dem Platz justiert. Sie haben mit ihrem Fußball immer weitergemacht, obwohl sie sahen, dass sie nichts erreichten.

Sie haben einst bei Inter Mailand mit vielen Deutschen zusammengespielt, mit Rummenigge, Andreas Brehme, Jürgen Klinsmann, Lothar Matthäus, Hansi Müller, Matthias Sammer. Was haben Sie an ihnen am meisten geschätzt?

Ihr Selbstvertrauen. Matthäus und Brehme sagten: Morgen gewinnen wir. Und dann gewannen wir. Aber sie waren dabei nicht anmaßend. Das kam aus ihrem tiefsten Innern. Ich will nicht sagen, dass wir Italiener besser oder schlechter wären, aber wir sind anders. Gelassener. Wir sagen eher: Wenn wir nicht gewinnen, passiert auch nichts. Und wir sind abergläubischer. Allein deshalb würde uns nicht einfallen, das zu sagen, was aus ihnen regelrecht herausplatzt: Wir gewinnen!

"Italien hat Probleme, wenn es selbst gestalten muss"

Worauf müssen die Deutschen gegen die Italiener achten?

Sie müssen auf das Umschaltspiel der Italiener aufpassen, auf ihre Blitz-Konter. Die Deutschen rücken weit auf, die Italiener haben die Gabe, die Räume im Rücken der Abwehr auszunutzen. Sie sind physisch in einer guten Verfassung, sie können Konter 60, 70 Meter vor dem gegnerischen Tor starten. Ich weiß nicht, ob Conte was Besonderes plant, ob er versuchen wird, die Deutschen ähnlich wie die Spanier in ihrer eigenen Hälfte anzugreifen. Mal sehen.

Italiens Plänen käme es demnach entgegen, dass Deutschland den Ball fordert.

Richtig! Welches waren die besten Spiele Italiens bei dieser EM? Gegen Belgien, gegen Spanien, also gegen Mannschaften, die das Spiel machen wollten. Italien hat Probleme, wenn es selbst gestalten muss, siehe die Partien gegen Schweden und Irland. Wenn der Gegner kompakt steht und sich nach hinten orientiert. Wenn du den Italienern aber Raum bietest, bereiten sie dir Schmerzen. Große Schmerzen.

Was also muss Italien tun?

Italien muss das Feld optimal abdecken, und in der Mitte darf man den Deutschen nichts zugestehen. Wenn es die Deutschen von dort aus nicht schaffen, in die Tiefe zu gehen, wenn wir dort den Ball erobern, können wir kontern. Das ist jetzt unser Fußball: mit vielen Leuten kontern, mit Giaccherini, Parolo, Éder, de Sciglio, Florenzi,

Zwei der vier ganz großen italienisch-deutschen Turnier-Duelle hatten wir eingangs erwähnt. Zwei fehlen noch. Waren Sie 2006 beim WM-Halbfinale in Dortmund, das durch Tore von Fabio Grosso und Alessandro Del Piero in der Verlängerung mit 2:0 entschieden wurde?

Ja, als Kommentator für einen italienischen Fernsehsender. Italien war stärker, reifer als Klinsmanns Deutschland, das da noch im Wachstum begriffen war, obwohl es wichtige Spieler wie Michael Ballack hatte. Italien siegte verdient, hatte aber auch das Glück eines vorteilhafteren Turnierverlaufs. Die Deutschen hatten gerade ihr Viertelfinale samt Verlängerung und Elfmeterschießen gegen Argentinien hinter sich.

Und wie fällt Ihre Rückschau auf die EM 2012 aus? Wieder ein Halbfinale, und erneut ein Sieg für Italien.

Meiner Meinung nach hatten die Deutschen die Stärke der Italiener nicht richtig eingeschätzt, vor allem nicht jene von Mario Balotelli. Dem ließen sie viel zu viel Raum, woraufhin er beide Tore schoss. Wir dachten damals, Balotelli würde unser Spieler von echter Sonderklasse werden, leider ist er ein wenig verloren gegangen. Die Deutschen waren in Warschau vielleicht auf dem Papier stärker, aber auch dort ist die komplette taktische Intelligenz der Italiener zum Tragen gekommen. Und Balotelli machte den Unterschied. Italien zu schlagen, ist hart. Sehr hart.

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