Fußball-WM:Von einer Hassfigur zum Nationalhelden in 90 Minuten

Fußball-WM: Plötzlich geliebt: Mexikos Trainer Juan Carlos Osorio mit seinen Spielern Hector Herrera (links) und Miguel Layun.

Plötzlich geliebt: Mexikos Trainer Juan Carlos Osorio mit seinen Spielern Hector Herrera (links) und Miguel Layun.

(Foto: AFP)
  • Mexiko feiert seine Nationalmannschaft und deren Trainer nach dem 1:0 über den Titelverteidiger frenetisch.
  • Nach den Vorbereitungspartien gegen Wales, Schottland und Dänemark war Juan Carlos Osorio noch ausgepfiffen worden.
  • Anscheinend hatte Osorio einen Plan und hat es nicht nur geschafft, diesen geheim zu halten, sondern auch ihn umzusetzen.

Von Boris Herrmann

So schnell kann es gehen, ein Konter, zwei Haken, ein ausgetanzter Özil, ein ausgewackelter Kroos, ein präziser Schuss ins linke Eck - und die Welt sieht wieder ganz anders aus. Jedenfalls jener so wunderbare wie unfassbare Teil der Welt, der Mexiko heißt. Eben noch hatten die Mexikaner ihre Nationalelf mit Schimpf, Schande und fliegenden Bierbechern nach Russland verabschiedet, besser gesagt zum Teufel gejagt, und schon nach dem ersten Spiel, zugegebenermaßen einem 1:0 gegen den Weltmeister, verwandelt sich das Land in eine Tanzfläche.

Die führende Zeitung El Universal, die vor rund einer Woche noch über ein "Wrack von einem Team" gelästert hatte, bejubelt jetzt den "wichtigsten Sieg in der mexikanische WM-Geschichte". Auf dem Zócalo, dem zentralen Platz im historischen Zentrum der Hauptstadt Mexiko-Stadt, feierten nach offiziellen Zählungen 75 000 Menschen. Weitere 20 000 Fans legten den Verkehr am Engel der Unabhängigkeit lahm. Wieder flogen Bierbecher durch die Luft, aber diesmal war es ein Ausdruck der Ekstase. Die Massen sangen das Volkslied "Cielito lindo" (Hübsches Himmelchen), die inoffizielle Hymne des Landes, und außerdem noch "Gracias Osorio", "Viva México, viva Osorio" sowie "Bruder Osorio, du bist jetzt Mexikaner".

Osorio wird über Nacht zum Nationalhelden

Gemeint war tatsächlich derselbe Juan Carlos Osorio, Mexikos Nationaltrainer aus Kolumbien, der neulich beim WM-Testspiel im Aztekenstadion noch von 80 000 Menschen ausgepfiffen und verwünscht worden war. Von einer Hassfigur zum Nationalhelden in 90 Minuten, das muss man auch erst einmal schaffen.

Vielleicht ist dieser Osorio, 57, der seine erfolgreichste Zeit bislang beim kolumbianischen Spitzenklub Atlético Nacional hatte, ja auch tatsächlich ein meisterhafter Bluffer. Hatte er nicht seinen mexikanischen Nationalspielern geraten, sich in den WM-Testspielen etwas zurückzuhalten? Das jedenfalls behauptete Torhüter Guillermo Ochoa nach zuletzt drei extrem trübseligen Auftritten gegen Wales, Schottlands B-Elf und Dänemark: "Er hat uns gesagt, dass es immer Spitzel gibt. Wir sollten deshalb versuchen, unsere Waffen nicht zu zeigen."

Das schließt die Frage an, ob womöglich der DFB-Chefspion Urs Siegenthaler bei einem dieser Spiele etwas zu ernsthaft hingeschaut hat und auf ein meisterhaft orchestriertes Täuschungsmanöver hereingefallen ist. Die deutsche Mannschaft erweckte am Sonntag in Moskau jedenfalls den Eindruck, als habe sie noch nie davon gehört, dass es in Mexiko schnelle Angreifer gibt, etwa den Siegtorschützen Hirving "Chucky" Lozano vom niederländischen Meister PSV Eindhoven, der 17 Treffer in der zurückliegenden Saison erzielte. Das erstaunliche Bekenntnis von DFB-Manager Oliver Bierhoff klang jedenfalls nicht wie ein Dementi der Bluff-These: "Die Mexikaner haben eine andere Taktik gefahren, als wir es erwartet hatten."

Mexiko seit Monaten mit einem Matchplan

Osorio wiederum hat mit dem frischen Aufwind eines mexikanischen Lieblings noch einen draufgesetzt, indem er behauptete: "Wir hatten einen Matchplan, den haben wir bereits vor sechs Monaten aufgestellt: schnell über die Außen zu kommen." Wenn das Team von Joachim Löw einen Matchplan hatte, dann war er jedenfalls nicht ersichtlich, es sei denn, er bestand darin, die Mexikaner schnell über die Außen kommen zu lassen.

Am Tag nach dem Sieg trainierten die Mexikaner in Moskau in zwei Gruppen. Anschließend stimmte Mittelfeldspieler Miguel Layún ein weiteres Loblied auf den Trainer an. "Er ist ein Genie", sagte Layun über Osorio, "wenn du siehst, wie er sich voll und ganz dieser Gruppe widmet, erscheint es mir manchmal völlig haltlos, dass so ein radikales Urteil gefällt wird, ohne das Innere zu kennen und von Tag zu Tag mitzuerleben." Vor dem Turnier war Osorio vorgeworfen worden, sein Team zu häufig umzustellen. Der Coup gegen den Titelverteidiger sei für das Selbstvertrauen enorm wichtig gewesen, betonte Layún: "Ich weiß nicht, ob wir eine Nachricht nach außen gesendet haben, aber intern haben wir eine sehr klare Nachricht gesendet, dass wir es können. Wir sind fähig, es mit jedem aufzunehmen."

Die Vorbereitung der Mexikaner ein einziges Blendwerk?

In Deutschland hatte man sich, genau wie im Rest der Welt, der nicht Mexiko heißt, in letzter Zeit vor allem mit einer etwas ausschweifenden mexikanischen Fiesta beschäftigt, bei der mehrere (oder auch alle) Spieler Osorios angeblich 17 Stunden lang Vollgas gegeben hatten, Gerüchten zufolge im Beisein von dreißig Damen eines Escort-Services.

Aus heutiger Sicht lässt sich sagen: Entweder es handelte sich um eine teambildende Maßnahme, die funktioniert hat. Oder die ganze Geschichte war ein Teil des Blendwerkes. Die Mexikaner wirkten am Sonntag jedenfalls bestens ausgeschlafen, als sie einen ziemlich verdutzten Weltmeister überrannten. Und noch mal überrannten. Und wieder überrannten.

Osorio sagte mit der Genugtuung eines Mannes, in dem sich alle getäuscht haben: "Dieser Triumph gehört jenen, die uns unterstützten. Und auch jenen, die uns nicht unterstützten."

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