Fußball-WM:Beim Videobeweis triumphiert die Willkür

World Cup - Group B - Iran vs Portugal

Nur Gelb statt Rot: Portugals Cristiano Ronaldo (links).

(Foto: REUTERS)

Desorientierung, Ratlosigkeit, Konfusion - dafür steht der Videobeweis bei dieser WM. Die Fifa hat einen Weg gefunden, seine Branchengrößen zu schützen. In der K.-o.-Runde wird es spielentscheidende Irrtümer geben.

Kommentar von Thomas Kistner

Geheimnis, Rätsel, Mysterium - jetzt gibt es für die Begriffswelt des Unergründlichen ein neues Wort: Videobeweis. Mit fortschreitender WM steht es für Gemütszustände wie Desorientierung, Ratlosigkeit, Konfusion. Niemand blickt mehr durch, der Videobeweis entfaltet ein obskures Eigenleben.

Das erstaunt schon deshalb sehr, weil ja klar ist: Das hochauflösende Kamera-Auge irrt fast nie, wenn es Spielszenen aus zig Winkeln einfängt. Aber in Russland versagt ja nicht die Kameratechnik. Vielmehr enthüllt sie das Grundübel, das mit dem Videobeweis bekämpft werden sollte: den menschlichen Fehler. Es gab Ringkämpfe, Checks und Tritte, die zu Elfern und Feldverweisen hätten führen müssen. Umgekehrt offenbarten die Bildbeweise falsche Handelfmeter, oder wie Saudi-Arabien gegen Ägypten Strafstöße geschenkt, nein: aufgedrängt bekam. All das wollten die Referees anders sehen, manchmal auch die Videoassistenten.

Wo also liegt das Mysterium beim Videobeweis? Das Regelwerk legt klar dar, was ein Foulspiel ist. Und es will die regelwidrige Verhinderung eines Tores hart bestraft sehen; egal, ob eine Blutgrätsche vorliegt oder nur ein effektiver Schubser.

In den K.-o.-Runden sind spielentscheidende Irrtümer zu erwarten

Nicht im Regelwerk steht, dass Foulspiele keine sind, wenn sie von Branchen-Helden begangen werden. Und schon gar nicht steht drin, dass das wirtschaftlich attraktivere oder das sportpolitisch bedeutsamere Team zu bevorzugen ist.

Das steht dafür woanders: In jenem Neben-Regelwerk, das die Milliardenbranche Profifußball seit jeher anstelle des offiziellen anwendet. Dieses Neben-Regelwerk ist ungeschrieben; es erhebt die Willkür zum Leitprinzip, hat es aber anders benannt: Tatsachenentscheidung. Der Begriff ummäntelt die Sehschwäche von Spielleitern, die jahrelang auf dem Rasen umständehalber nicht mitbekamen, was Millionen TV-Zuschauer besser sahen. Trotzdem durften nur sie entscheiden: die Blinden unter den Sehenden.

Diese institutionalisierte Willkür war ein Ärgernis, klar, aber halt auch das ideale Instrument zur Spielsteuerung. Zumal im reichsten Sport der Welt, in dem der Schwächere (viel zu) oft den Stärkeren bezwingen kann. Und so schlug über die Jahrzehnte der Tatsachenentscheidungen das Pendel in strittigen Szenen entlarvend häufig zugunsten des einflussreicheren Teams aus. Im Zweifel zusätzlich absichern ließ sich das Ganze über passende Schiedsrichter-Ansetzungen.

Am Ende entscheidet weiter ein Referee - per Tatsachenentscheid

Lang hat sich Branche gegen den Videobeweis gesträubt. Obwohl der, sauber angewendet, das höchst betrugsanfällige Konstrukt der Tatsachenentscheidung weitgehend aushebelt. Er korrigiert die Willkür, damit die Spielmanipulation; die unabsichtliche wie die absichtliche. Entscheidend ist aber die Handhabung.

Und da zeigt sich, dass die Branche keinerlei Interesse an rigorosen Leitlinien hat. Abstruse Vorgaben wie die, das Festhalten und Umklammern großzügiger zu ahnden, entlarven, worum es der Fifa geht. Während nach außen mehr Korrektheit dank Video-Hightech suggeriert wird, werden im Inneren die Regeln aufgeweicht. Am Ende urteilt weiter ein Referee, auf dem Feld oder vorm Bildschirm - per Tatsachenentscheid. Der darf trotz Videobild ruhig weiter grottenfalsch sein. Diese Entwicklung bereitet das Feld für spielentscheidende Irrtümer, die in den K.-o.-Runden zu erwarten sind. Dem Publikum wird aber nun vermittelt, diese Fehler seien dem Videobeweis geschuldet - und nicht den zersetzenden Kräften dahinter. So bleibt für die Branche alles beim Alten; es triumphiert die Willkür.

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