Fußball-WM:Schachtjor Brasilien

FIFA World Cup - Brazil Training

Die Brasilianer Fred (l.) und Neymar während des Trainings.

(Foto: REUTERS)
  • Mit Fred und Taison spielen zwei Fußballer aus dem WM-Kader der Seleção in Donezk - drei weitere haben in der Ukraine ihre Karriere forciert.
  • Sie gelten als Symbol einer schleichenden Entfremdung zwischen dem brasilianischen Publikum und seiner Seleção.
  • Ein Grund: Anders als etwa Neymar haben viele von ihnen keine bleibenden Erinnerungen in der brasilianischen Liga hinterlassen.

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

Seit Dienstag ist bestätigt, dass der brasilianische Fußballer Fred zur kommenden Saison zu Manchester United wechselt, angeblich für 60 Millionen Euro. Die britische Zeitung The Independent hatte das schon ein paar Tage zuvor verraten. Ihre Exklusivgeschichte sorgte in Brasilien für allgemeine Heiterkeit, das lag an dem Foto, mit dem der Bericht illustriert war. Abgebildet war Frederico Chaves Guedes, 34 - der falsche Fred.

Der richtige Fred heißt mit vollem Namen Frederico Rodrigues de Paula Santos, ist 25, spielt im Mittelfeld und stand seit fünf Jahren bei Schachtjor Donezk in der Ukraine unter Vertrag. Der falsche Fred lässt seine Stürmerkarriere derzeit bei Cruzeiro in Belo Horizonte ausklingen. Er war drei Mal Torschützenkönig der brasilianischen Liga, weltweit bekannt wurde er aber bei der WM 2014 im Trikot der Seleção - als tragische Witzfigur im Strafraum und als der große Sündenbock beim 1:7 gegen Deutschland. Es ist in der Tat schwer vorstellbar, dass Manchester United für diesen Spieler 60 Millionen ausgibt.

In Brasilien lachen sie jetzt darüber, dass die Briten die Freds verwechseln. Aber falls die Briten zurücklachen wollen, könnten sie die Brasilianer an ein Länderspiel erinnern, das im Juni 2015 in São Paulo stattfand. Damals trug der Fred von Donezk erstmals das kanariengelbe Nationaltrikot. Noch vor Anpfiff wurde er vom ganzen Stadion ausgebuht. Warum? Die Zuschauer hatten die Freds verwechselt.

Wer als Brasilianer in der Ukraine spielt, hat es nicht leicht in seiner Heimat: "Das ist eine Liga, die kaum jemand verfolgt", räumte Fred, der Jüngere, neulich im WM-Trainingslager der Seleção ein. Die meisten brasilianischen Fußballfans hatten bis zu seinem Länderspieldebüt nie von ihm gehört, entsprechend groß waren die Vorbehalte. Und wenn es Fred (gesprochen: Fredschi) seither in seinem Heimatland in die Schlagzeilen schaffte, dann ging es eher selten um seine zweifellos überdurchschnittlichen Fähigkeiten als sogenannter Box-to-Box-Spieler, als Dauerläufer zwischen den Strafräumen. Es ging dann eher um etwas, das er nur "diese Sache" nennt.

Der Unterschied zwischen den aktuellen Spielern und ihren Vorgängern

Bei dieser Sache handelt es sich um einen Dopingfall. 2015 sprach der Weltverband eine einjährige Sperre gegen Fred aus. Er war positiv auf Hydrochlorothiazid getestet worden, das oft zur Maskierung von leistungssteigernden Substanzen benutzt wird. Fred sagt, er habe aus dieser Sache gelernt. Was genau, verrät er nicht. Fest steht: Er hat es vom Dopingsünder zum WM-Fahrer geschafft, aber das ist es nicht, was die Brasilianer an seiner Nominierung stört. Es ist der Verein, bei dem er bisher spielte. Ein TV-Kommentator brachte ein allgemeines Unbehagen auf den Punkt, als er die Seleção neulich abfällig als "República Shakhtar" bezeichnete.

Neben Fred gehört auch Stürmer Taison, ein zweiter Spieler aus Donezk, zum brasilianischen WM-Aufgebot. Auch die Profikarrieren der Teamkollegen Willian, Fernandinho und Douglas Costa hatten bei Schachtjor Fahrt aufgenommen. Obwohl sie inzwischen bei Chelsea, Manchester City beziehungsweise Juventus Turin unter Vertrag stehen, werden sie in Brasilien weiterhin der Ukraine-Fraktion zugerechnet, der Schachtjor-Republik.

Der Klub des Oligarchen Rinat Achmetow hat sich im zurückliegenden Jahrzehnt zur größten europäischen Filiale für brasilianischen Fußballer entwickelt. Zwischenzeitlich standen dort 13 Brasilianer im Kader, derzeit sind es acht. Immer, wenn einer von ihnen in die Nationalelf berufen wird, bricht eine aufgeregte Debatte los, in der es um die schleichende Entfremdung zwischen dem brasilianischen Publikum und seiner Seleção geht. Laut einem Bericht des Nachrichtenmagazins Istoé sind zwei Drittel der Brasilianer wenig oder gar nicht an diesem Team interessiert - auch weil sie zu den meisten Spielern keinen emotionalen Bezug haben.

Brasilianische Fußballfans sind es gewohnt, dass ihre Nationalspieler beizeiten das Land verlassen, weil sie in Europa und inzwischen auch in China deutlich mehr verdienen können. Aber es gibt einen großen Unterschied zwischen der aktuellen Spielergeneration und ihren Vorgängern. Ronaldinho war ein Held bei Grêmio in Porto Alegre, bevor er in die weite Welt zog, Roberto Carlos bei Palmeiras, Kaká beim FC São Paulo. Und die Frage, weshalb Neymar als der letzte zeitgenössische Nationalheilige verehrt wird, führt neben seinen Dribbelkünsten auch zu seinen 54 Profitoren für den FC Santos. Er hat bleibende Erinnerungen in der brasilianischen Liga hinterlassen, bevor er ein Weltstar wurde.

Die Debatte ist geprägt von Ignoranz, Häme - und einer politischen Komponente

Das kann keiner seiner Nationalteamkollegen Philippe Coutinho, Marcelo, Roberto Firmino, Willian, Taison oder Fred von sich behaupten. Sie alle wurden sehr jung nach Europa transferiert, zum Teil noch als Minderjährige. Und es kam in den vergangenen Jahren nicht selten vor, dass selbst brasilianische Fußballkenner erst einmal googeln mussten, als die Aufgebote der Seleção bekannt gegeben wurden, so wie die Deutschen damals im Fall Shkodran Mustafi. Die Donezk-Fraktion gilt als Symbol dieser Entwicklung.

Als Nationalcoach Tite neulich für ein Testspiel den Linksverteidiger Ismaily von Schachtjor berief, saß eine Expertenrunde im brasilianischen Fernsehen vor einem Hintergrund aus lauter gelben Grinsegesichtern. Smiley wird im Portugiesischen wie Ismaily ausgesprochen, einer der Experten sagte: "Dieser Smiley, wer soll das sein? Ist das ein Witz?" Durchaus ernsthaft wurde dann diskutiert, ob der Einfluss Achmetows so weit reiche, um beim brasilianischen Fußballverband eine Art Ukrainer-Quote durchzusetzen.

Die Debatte ist geprägt von einer Mischung aus Ignoranz, Häme und dem südamerikanischen Faible für Verschwörungstheorien. Vor der WM in Russland kommt noch eine heikle politische Komponente hinzu. Schachtjor ist ja nicht irgendein ukrainischer Klub, er steht wie kein anderer im Zentrum des russischen Krieges in der Ostukraine. Die Donbass-Arena in Donezk, Schauplatz der EM 2012, wurde 2014 bei einer Explosion beschädigt. Die Stadt wird von prorussischen Separatisten kontrolliert. Schachtjor ist seit Jahren heimatlos und trägt seine Spiele derzeit im rund 250 Kilometer entfernten Charkow aus, das Team wohnt und trainiert in Kiew. Brasiliens Nationalteam reist nun also mit einer Reihe von Spielern nach Russland, deren Karriere zuletzt auch von der Flucht vor russischer Aggression geprägt war.

Im Juli 2014 gehörten Fred und Douglas Costa zu einer Gruppe von fünf brasilianischen Profis, die sich nach einem Spiel von Schachtjor in Frankreich von der Mannschaft absetzten und offenbar versuchten unterzutauchen. Für einen Moment galten sie als verschwunden. Drei Tage zuvor war die Maschine MH17 von Malaysia Airlines über der Ostukraine abgeschossen worden. Die fünf Brasilianer fürchteten offenbar um ihr Leben. Dann sprach Achmetow ein Machtwort und rief alle unverzüglich zurück in die Ukraine. Sie gehorchten.

Es ist Fred anzumerken, dass er darüber nicht sprechen will - oder darf, wie manche vermuten: "Leider gibt es diese Situation in der Ukraine", sagt er bloß. Er wird sie ja bald überstanden haben, nach der WM zieht er nach Manchester. Und falls er dort genauso glänzen sollte wie zuletzt beim ukrainischen Meister, dann werden ihn die Briten und Brasilianer eines Tages auch nicht mehr mit dem anderen Fredschi verwechseln.

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