Fußball-WM:Neymar tanzt einbeinig im goldenen Käfig

Der brasilianische Fußballstar Neymar besucht einen Nachtclub in Sao Paulo.

Viele Brasilianer glauben, dass Neymar besser Fußball spielt, wenn seine Beziehung zu TV-Star Bruna Marquezine auf "on" steht.

(Foto: Paulo Whitaker/Reuters)
  • Neymar kuriert seinen Mittelfußbruch in Brasilien aus und kommt dabei auf den ein oder anderen dummen Gedanken.
  • Seine Verletzung beschäftigt sein Heimatland. Es stellt sich die Frage: Heilt der Fuß des Angreifers bis zur WM in Russland?
  • Darauf will Nationaltrainer Tite nicht komplett setzen. Er arbeitet schon an einem Plan B.

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

Der berühmteste Rollstuhl Brasiliens hat hinten zwei große und vorne zwei kleine Reifen. Sein Design besticht durch schwarze Radkappen sowie die beiden unabhängig voneinander verstellbaren Fußklappen. Sicherlich kein ganz billiges, aber auch kein handelsunübliches Modell. Dass dieser Rollstuhl jetzt ein Medienstar ist, der es mehrfach auf die Titelseiten brasilianischer Zeitungen schaffte, hat er seinem Besitzer zu verdanken, Neymar Jr. Der teuerste Fußballer des Planeten, Angestellter von Paris Saint-Germain, kann wegen eines Mittelfußbruchs gerade nicht Fußball spielen. Die überschüssige Zeit vertreibt er sich offenbar damit, sich im Rollstuhl und um den Rollstuhl herum fotografieren zu lassen. Diese Bilder stellt er dann der interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung. Es gibt schon seltsame Hobbys.

Was bisher zusammenkam, reicht für eine kleine Museumsschau. Immer wieder treten dabei auch hochrangige Gaststars auf. Es gibt den Rollstuhl-Neymar etwa im Beisein des Showmasters Luciano Huck, den zehn Prozent der Brasilianer zum Präsidenten wählen würden, obwohl er gar nicht antreten will. Große Aufmerksamkeit erregte auch das Foto, auf dem das Telenovela-Sternchen Bruna Marquezine, 22, quer auf dem Schoß des Rollstuhlfahrers sitzt. Die beiden führen seit einigen Jahren eine sogenannte On-off-Beziehung, und Brasilien reagiert immer erleichtert, wenn die Zeichen gerade auf "On" stehen.

Die seriöse Folha de São Paulo verweist in diesem Kontext auf neuere Neymar-Studien, wonach dessen Torquote in Zeiten des Liebesglücks mit Marquezine signifikant ansteige. In nicht ganz so seriösen Blättern werden deshalb neben der Genesung des Mittelfußes auch die Aufs und Abs dieser Beziehung minutiös verfolgt. Beides muss demnach bis Juni im Lot sein, wenn es mit dem WM-Titel für Brasilien in Russland etwas werden soll.

Die Reha darf Neymar in seinem Haus verbringen

Und noch ein Rollstuhl-Foto hat das Land in Wallungen versetzt - wegen allgemein diagnostizierter Pietätlosigkeit. Darauf sonnt sich der Rekonvaleszent Neymar tiefenentspannt auf seiner heimischen Terrasse, seine Badehose lässt sich nur erahnen. Aufgenommen und verbreitet wurde das Bild am Todestag des britischen Astrophysikers Stephen Hawking. Sich wegen eines Haarrisses im Zauberfüßchen mit einem Menschen zu vergleichen, der wegen einer schweren Nervenkrankheit über Jahrzehnte im Rollstuhl saß, zeugt sicherlich nicht von Hawking'schem Intellekt. Andererseits darf man es einem 26-jährigen Bewegungstalent vielleicht auch nicht allzu übel nehmen, wenn es in einer Phase wochenlanger Bewegungslosigkeit auf den ein oder anderen dummen Gedanken kommt.

Neymar hat mit seinem Arbeitgeber Paris Saint-Germain vereinbart, dass er die längste Zeit seiner Reha in seinem Anwesen in Mangaratiba, 85 Kilometer westlich von Rio de Janeiro, verbringen wird. Es befindet sich im abgeriegelten "Condominio Portobello", berühmt für seine Exklusivität - sowie dafür, dass zuletzt ein halbes Dutzend Anwohner wegen Korruption verhaftet wurden.

Nach übereinstimmenden Medienberichten gibt es im Hause Neymar neben sechs Badezimmern, einem Fitnessstudio, einer Anlegestelle für zwei Yachten, einem Hubschrauberlandeplatz, einem Hangar für sein Privatflugzeug sowie dem berühmten Rollstuhl auch einen klimatisierten Weinkeller für 3000 Flaschen. So gesehen können die brasilianischen Fußballfans noch froh sein, wenn sich die kleinen Dummheiten des Hausherrn auf geschmacklose Tweets beschränken.

Kurzum: Neymar hält die heimische Sportberichterstattung auch als Fußballer außer Dienst auf Trab. Und gerade in diesen Tagen, da sich das Team von Nationaltrainer Tite auf Testspielreise befindet, geht es vor allem um den Spieler, der fehlt.

Die Nation hofft auf ein Comeback wie von Ronaldo bei der WM 2002

Stoff gibt es genug: Da sind zum einen die neuesten Entwicklungen aus Mangaratiba (Neymar tanzt in seinem goldenen Käfig einen Geburtstags-Reggaeton für seine Schwester Rafaella, einbeinig). Dazu die Gerüchte über die Forderung nach einer kleinen Gehaltserhöhung in Paris (von 47 auf 59 Millionen Euro pro Jahr) sowie über einen Flirt mit Real Madrid. Es gilt ja als belegt, dass Neymar in der französischen Liga bislang genauso glücklich ist, wie es allerseits prophezeit wurde, nämlich gar nicht. Unter anderem, weil er dort deutlich mehr getreten wird als in seiner spanischen Zeit. Zum FC Barcelona führt nach dem jüngsten Trennungskrieg aber kein Weg zurück, also Madrid? Reals Klubchef Florentino Perez soll große Sympathien für einen Neymar-Transfer haben, aber im Vorstand gibt es angeblich massive Bedenken im Bezug auf dessen Professionalität (siehe Reggaeton auf einem Bein). Und in Brasilien sorgt man sich ferner um die Frage, ob die Seleção bei der WM zur Not auch ohne ihren Vortänzer konkurrenzfähig wäre.

Zwar wurde der rechte Mittelfuß Anfang März in Belo Horizonte erfolgreich operiert, und wenn alles nach Plan verläuft, sollte Neymar spätestens nach drei Monaten Pause wieder einsatzfähig sein, also gerade rechtzeitig zum WM-Start mit Vorrundenspielen gegen die Schweiz, Costa Rica und Serbien. Andererseits zeigt der Fall des deutschen Nationaltorwarts Manuel Neuer, den dieselbe Verletzung plagt, dass in solchen Fällen nicht immer alles nach Plan verläuft. Dem Vernehmen nach werkelt Tite vorsichtshalber an einem Plan B - ohne Neymar. Bei den Spielen in Europa, unter anderem am Dienstag in Berlin gegen Deutschland, steht dieser Plan auf dem Prüfstand.

Wenn Nemyar dabei ist, wunderbar!

Bei der bislang letzten Begegnung zwischen Brasilien und den Deutschen im WM-Halbfinale 2014 von Belo Horizonte mussten die Gastgeber kurzfristig auf ihren wichtigsten Spieler verzichten, er hatte sich im Viertelfinale verletzt. Damals ging das, gelinde gesagt, schief, 1:7. Coach Tite, der die Seleção in anderthalb Jahren von einer Lachnummer zurück in die Weltspitze geführt hat, werkelte von Anfang an akribisch daran, die "Neymardependencia" zu verringern. Das ist der gängige Fachbegriff für Brasiliens Abhängigkeit vom Häuptling und Talisman.

Wenn Neymar dabei ist, wunderbar! Dann soll der Ball aber trotzdem zirkulieren und die Verantwortlichkeit für den Spielaufbau explizit auf mehreren Schultern verteilt werden. Und wenn er fehlt, dann übernimmt eben ein anderer seine Rolle im System. Klingt banal, ist aber trotzdem neu. Wenn Brasilien unter Tites Vorgänger Dunga überhaupt ein System hatte, dann lautete es: Wir geben Neymar den Ball und wünschen ihm viel Glück.

In Tites heiliger 4-1-4-1-Formation stehen auch für den Plan B nicht die schlechtesten Offensivspieler zur Verfügung. Für die Zentrale vorgesehen sind dann Paulinho - und Philippe Coutinho vom FC Barcelona, seines Zeichens zweitteuerster Erdling. Dazu die Flügelspieler Willian (Chelsea) und Douglas Costa (Juventus) sowie Gabriel Jesus (Manchester City) oder Roberto Firmino (Liverpool) in der Spitze. Auch in dieser Besetzung hat Brasilien zuletzt fast immer überzeugt und gesiegt.

Neymars "Gesundheit geht vor"

Damit kein falscher Eindruck entsteht: Tite will Neymar in Russland sehr gerne dabeihaben, am besten mit Spielpraxis, aber offenbar nicht um jeden Preis: "Wir werden nichts überstürzen", verkündete er dieser Tage, "seine Gesundheit geht vor."

Ganz so gelassen sieht das die Mehrheit der Brasilianer nicht. Die weltgrößte Fußballnation hat eine ähnliche Situation ja schon einmal durchgemacht. Vor der WM 2002 in Japan und Korea musste der damalige Wunderstürmer Ronaldo drei Monate wegen einer lädierten Leiste pausieren. Als er endlich wieder auf den Platz kam, erschraken die Leute über sein Kampfgewicht. Dann schoss dieses phänomenale Pummelchen im WM-Finale zwei Tore. Oliver Kahn erinnert sich bestimmt.

Es werden nun auch allerlei Vergleichsstudien zwischen der Leiste von 2002 und dem Mittelfuß von 2018 angestellt. Und vielleicht war auch ein bisschen Aberglaube dabei, als Neymar für seine OP in Brasilien unter anderem den französischen Chirurgen Gérard Saillant einfliegen ließ. Er hatte damals auch Ronaldo operiert.

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