Fußball-WM: Michael Ballack:Die Stunde der Demokraten

Nach Ballacks WM-Aus gilt für die Nationalelf: In jedem Schmerz liegt eine Chance. Löws Team kann ohne den Kapitän zur Blüte reifen - wenn es demokratisch zugeht.

Christian Zaschke

Es gibt vermutlich kein Ungemach, das nicht schon mit dem Zusatz "... kann auch eine Chance sein" beschrieben worden ist. Das Studium von Publikationen aller Art, gedruckt wie online, vertieft den Eindruck, dass der Herzinfarkt ebenso Chance sein kann wie die Insolvenz, der demografische Wandel, Krebs, das Bohrinselunglück, die Finanzkrise oder der Verlust des Arbeitsplatzes. Dann sollte auch die Knöchelverletzung von Michael Ballack sich irgendwie zu einer Chance umdeuten lassen, nicht wahr?

Fußball-WM, Nationalmannschaft, Michael Ballack, Joachim Löw; dpa

Bundestrainer Joachim Löw im Trainingslager der Nationalmannschaft auf Sizilien: Manche Gefüge reifen ohne einen Chef erst zur Blüte.

(Foto: Foto: dpa)

Das mag zynisch klingen, insbesondere, weil es für Ballack selbst keine Umdeutung gibt, sondern nur Schmerzen und Frust. Es ist aber nicht zynisch gemeint, denn die Mannschaft muss einen Umgang mit dem Fehlen des Kapitäns finden, und der einzig konstruktive ist die Umdeutung in diesem Sinne: Ja, es ist eine sportliche Schwächung, dass Ballack fehlt, aber es bedeutet auch die Möglichkeit, als Mannschaft - von der dominierenden Figur befreit - eine flache Hierarchie zu bilden, ein stärkeres Zusammengehörigkeitsgefühl.

Manche Gefüge fallen ohne dominanten Chef auseinander, andere reifen ohne dominanten Chef erst zur Blüte. Per Auto-Suggestion muss die deutsche Nationalmannschaft sich nun immer wieder vergegenwärtigen, dass sie ein Gefüge der zweiten Art ist.

Man könnte aus diesem Gedanken sogar eine Utopie entwickeln: Anfang der achtziger Jahre hat der brasilianische Profifußballer und Arzt Sócrates mit einigen Mitspielern bei seinem Klub Corinthians São Paulo durchgesetzt, dass sämtliche Entscheidungen demokratisch getroffen wurden, die Spieler bestimmten alles.

So weit wird es Bundestrainer Joachim Löw nicht kommen lassen, die ein oder andere Entscheidung wird er sich vorbehalten, aber er muss dennoch darauf vertrauen, dass sich sein Kader fortan demokratischer organisiert, als das bisher der Fall war. Obwohl sie von vielen Spielern des derzeit so erfolgreichen FC Bayern geprägt wird, besteht die Chance der Nationalelf nun paradoxerweise darin, ein Gegenentwurf zum Münchner Großklub zu sein: ein Team, das sich ohne autoritären Trainer (denn das ist Löw nicht) und ohne bestimmenden Kapitän organisiert.

Ballack wird 34 Jahre alt, bald hätte das Team ohnehin lernen müssen, ohne ihn zu arbeiten und zu spielen. Die Zukunft der Nationalelf beginnt also lediglich etwas plötzlicher als geplant. Dem bedauernswerten Michael Ballack ist das kein Trost.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: