Fußball-WM:Messi braucht ein Team, um Messi zu sein

Fußball-WM: Zerzauster Zehner: Lionel Messi nach dem enttäuschenden WM-Auftakt gegen Island.

Zerzauster Zehner: Lionel Messi nach dem enttäuschenden WM-Auftakt gegen Island.

(Foto: Antonio Calanni/AP)
  • Nach dem schwachen 1:1-Start Argentiniens bei der Fußball-WM gegen Island gibt es heftige Kritik an der Mannschaft.
  • Lionel Messi verschießt sogar einen Elfmeter, doch die Probleme gehen tiefer.
  • Kritiker bemängeln, dass dem Team insgesamt eine Spielidee fehlen würde, die den Kapitän besser zur Geltung bringt.

Von Claudio Catuogno, Moskau

Ob er denn seine Hausaufgaben gemacht habe, wurde Hannes Thor Halldorsson nachher gefragt, und Hannes Thor Halldorsson, 34, der Torwart der isländischen Nationalmannschaft, sagte: "Ja, das habe ich." Die Hausaufgaben bestanden unter anderem darin, sich eine umfangreiche Schnipselsammlung im Internet anzusehen, und das ist quasi Halldorssons Lieblingsfach: Er ist im Hauptberuf Filmregisseur; 2012 produzierte er das Video zu Islands Beitrag für den Eurovision Song Contest, das Lied hieß "Never Forget". Diesmal schaute er sich Sachen ohne Musik an: Messi-Elfmeter.

"Ich wusste ja, dass das kommen kann", erklärte Hannes Thor Halldorsson, "deshalb war ich guter Hoffnung, dass es so laufen würde, wie es dann gelaufen ist."

Wenn man aber etwas mehr verstehen will von jener Disziplin, mit der die WM-Neulinge aus dem Norden am Samstag in Moskau Messi und seinen Argentiniern in der Gruppe D ein 1:1 (1:1) abgetrotzt haben, dann muss man auch Teil zwei der Hausaufgaben kennen, den freiwilligen Teil: Halldorsson machte sich nämlich nicht nur mit Messis Gewohnheiten als Schütze vertraut, er sah sich auch noch mal an, "wie ich bei meinen letzten Elfmetern agiert habe", und dann fragte er sich, "was die wohl über mich denken werden?"

. Die Vorstellung, dass Lionel Messi, der fünfmalige Weltfußballer vom FC Barcelona, sich Halldorsson-Paraden anschaut bei Randers FC, dänische Liga, hat etwas Rührendes. Als würde sich die Sekretärin des Alpenvereins, Sektion Norddeutsches Tiefland, nicht nur ausführlich mit dem Aconcagua beschäftigen, sondern auch darüber nachdenken, wie sich wohl der Aconcagua darauf vorbereiten würde, sollte sie sich - träumen kann man ja mal - demnächst tatsächlich einer Expedition auf den höchsten Berg der Anden anschließen.

Natürlich hatte Lionel Messi, als es darauf ankam, keinen auf Halldorssons Sprungvorlieben abgestimmten Plan, er hatte halt den Plan, Lionel Messi zu sein. Die 64. Minute, Elfmeter für Argentinien, es war also gekommen, was Halldorsson antizipiert hatte: Messi klemmte sich den Ball unter den Arm, legte ihn auf den Kreidepunkt, nahm sechseinhalb Schritte Anlauf. Dann habe er "erst im letzten Moment entschieden", wohin der Ball gehen sollte, berichtete Messi nachher, "scharf neben den Pfosten", das war die Idee, "aber dann ist er mir halbhoch rausgerutscht, und der Torwart ist genau in diese Richtung gesprungen".

Und so hatte Hannes Thor Halldorsson doch tatsächlich im ersten WM-Spiel der isländischen Fußball-Geschichte einen Elfmeter von Lionel Messi gehalten. Manchmal macht sich das Kleine für einen Moment wirklich sehr, sehr groß.

Es dauerte eine Weile, bis Messi etwas dazu sagte, und als er dann in der Mixed Zone des Spartak-Stadions erschien, krachte gleich das Absperrgitter zusammen vor lauter Gedränge, die Ordner mussten es abstützen, während Messi sprach. "Es tut mir weh", sagte er, "weil ich mich für den Erfolg der Mannschaft verantwortlich fühle", und klar: Eine 2:1-Führung "hätte das Drehbuch verändert". Das ganze Spiel hätte Messi auf seine Seite zwingen können, der Gegner "hätte sich mehr öffnen müssen, und wir hätten mehr Räume gehabt".

So blieben die Räume zu, was genau der Plan der Isländer und ihres Trainers Heimir Hallgrimsson war: "Wir wollten ihnen weder Raum noch Zeit geben" für das, was sie können, also "Eins-gegen-eins-Duelle" und "gute Schusspositionen kreieren", sagte Hallgrimsson, "wir wussten ja, wie dieses Spiel laufen würde". Auch Hallgrimsson hatte seine Hausaufgaben gemacht.

Überhaupt hatte dieses Spiel eine Botschaft wie für den Pädagogenverband erschaffen: Du kannst es auch ohne überragendes Talent weit bringen, du musst dafür aber nicht nur wissen, was du kannst, sondern auch, was du nicht kannst. Und das, was du nicht kannst, musst du bitte sein lassen.

Zwei zusammengefrorene Spielerketten

Die Isländer können nicht so gut mit dem Ball ein Kombinationsspiel aufziehen, also wollen sie ihn auch gar nicht unbedingt, den Ball: Am Samstag hatten sie ihn nur zu 28 Prozent. Und wenn, dann wollen sie ihn schnell nach vorne bringen und dort möglichst ins Tor hinein, ehe er ihnen wieder irgendwohin verspringt. Dafür können sie mit viel Disziplin einen Eiswall vor ihrem Strafraum aufschaufeln, bestehend aus zwei Viererketten, die so konsequent gemeinsam verschieben, als seien sie aneinandergefroren. Schön ist das auch, aber eben unter voyeuristischen Gesichtspunkten. Es hat ja einen gewissen Reiz, Leuten wie Messi, Ángel Di María oder Sergio Agüero dabei zuzusehen, wie sie an einer weißen Mauer abprallen.

Die Argentinier können viel schönere Sachen, sie haben etwa vier Torjäger im Programm, die in ihren Klubs zusammengerechnet 124 Saisontreffer erzielt haben: Messi, Agüero, Paolo Dybala und Gonzalo Higuain. Aber Dybala und Higuain saßen nur auf der Bank. Und das Hauptproblem war, dass die Argentinier nicht in der Lage sind, ihre Schwächen zu kaschieren.

Das Verteidigen zum Beispiel. Torwart Wilfredo Caballero hat beim FC Chelsea in dieser Saison gerade mal drei Ligaspiele absolviert (mit vier Gegentoren) und war überfordert, seiner Defensive Stabilität zu vermitteln - was aber nötig gewesen wäre angesichts von Verteidigern wie etwa Marcos Rojo, der zuletzt bei Manchester United auch kein Stammspieler war. Mit einem Rückpass auf Caballero leitete Rojo den Gegentreffer ein: Alfred Finnbogason vom FC Augsburg musste den Ball nur über die Linie drücken zum 1:1 (23.). Agüero hatte kurz zuvor das 1:0 erzielt (19.).

"Messi allein kann die WM nicht gewinnen"

Doch vor allem haben die Argentinier zwar Messi - aber ihr Trainer Jorge Sampaoli scheint keinen rechten Plan zu haben, daraus Kapital zu schlagen, außer jenen, einfach die ganze Last auf Messis Schultern abzuladen. Dieser Aspekt des Scheiterns wird von den Experten in der Heimat längst kontroverser diskutiert als ein verschossener Elfmeter. Hernán Crespo, einst selbst Nationalstürmer, zog in der Gazzetta dello Sport den Vergleich zum Portugiesen Cristiano Ronaldo: "Ronaldo spielt allein, hat Physis, schießt, trifft. Aber damit Messi Messi sein kann, braucht er die Mannschaft. Messi allein kann die WM nicht gewinnen." Gabriel Batistuta, ein weiterer ehemaliger Stürmer, schrieb bei Twitter: "Ich würde mir Angriffszüge und eine klare Idee wünschen, und nicht, dass man von Einzelinitiativen abhängt."

Gegen Island spielte Messi zwar viele Pässe, aber so gut wie keinen in den gegnerischen Strafraum, und weil sein gefährlicher linker Fuß meist im Eis feststeckte, blieben ihm bloß einige Freistöße, um für Torgefahr zu sorgen. "Crislandia" spottete die Zeitung Olé - die Island-Krise.

Ob das seinen Spielern eigentlich Spaß mache, wurde der Trainer Hallgrimsson nachher gefragt, dieses ständige Vermauern und Vereisen aller verfügbarer Räume, immer in der Gewissheit, dass jede kleine Unaufmerksamkeit das Ende sein kann gegen die Dribbler aus Südamerika? Hallgrimsson lächelte und entgegnete: "Um ehrlich zu sein, ich glaube: Ja, es macht ihnen Spaß. Nur so können wir das Spiel organisieren - aber so können wir es. Und für alle ist es doch mehr Genuss, so zu spielen und etwas zu erreichen, als anders zu spielen und nichts zu erreichen."

Den gehaltenen Elfmeter gegen Lionel Messi kann dem isländischen Torwart Hannes Thor Halldorsson jedenfalls keiner mehr nehmen.

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