Fußball-WM 2010:Ein mächtiges Stück Stoff

Bundestrainer Joachim Löw will bald verkünden, wer bei der WM an Stelle des verletzten Michael Ballack Kapitän spielen darf - als Favorit gilt ein Bayern-Spieler.

Christof Kneer

Es stand schon ziemlich lange 0:0, zu lange für ein Spiel gegen Albanien. Das Publikum in Leverkusen wurde langsam unruhig, und wenn der Ball aus Versehen mal im deutschen Angriff ankam, verwandelte sich die Unruhe in ernsthaften Unmut. Ja, warum stakst denn dieser Bierhoff immer noch da vorne rum!

Rudi Völler, der Teamchef, konnte zu diesem Zeitpunkt unmöglich wissen, dass er diesen Bierhoff viele Jahre später einmal als "Maltafüßler" verspotten würde, also hielt er zu seinem Stürmer, so gut es ging. Zur Pause hatte er das Gefühl, dass es nicht mehr ging: Er wechselte Bierhoff aus, was doppelt dramatisch war. Denn erstens kam für ihn Carsten Jancker. Und zweitens war Bierhoff damals Kapitän.

Neun Jahre ist das jetzt her, aber so etwas vergisst man nicht, zumindest nicht, wenn man zufällig der Leidtragende war. "Ich kenne die Situation, wenn man als Kapitän ausgewechselt wird", sagte Bierhoff am Pfingstmontag im DFB-Hauptquartier im sonnigen Süd- tirol und fügte amüsiert an, er habe die Rolle des Spielführers "schon immer für etwas überbewertet gehalten".

Beispiel Bierhoff

Oliver Bierhoff weiß ja inzwischen, dass man trotz schwacher Länderspiele gegen Albanien und die Slowakei zum Manager der Nationalelf aufsteigen kann, dennoch dürfte kaum einer die Risiken und Nebenwirkungen einer DFB- Kapitänsbinde besser kennen als er. Bierhoff weiß, was dieses unscheinbare Stück Stoff mit einem anstellen kann, er kennt das Gewicht, das es entwickelt.

Er weiß am besten, dass es keine kleine Entscheidung ist, die Bundestrainer Joachim Löw in den nächsten Tagen verkünden wird. In den nächsten Tagen will Löw öffentlich machen, welche beiden Spieler seine Elf bei der WM in Südafrika aufs Feld führen werden. Vorne läuft ja immer der Kapitän, und dahinter kommt der Torwart. Es sieht so aus, als würde nach Michael Ballacks Ausfall Philipp Lahm vorne laufen. Und hinter ihm läuft nach René Adlers Ausfall wahrscheinlich Manuel Neuer.

"Wir sind in unserer Entscheidungs- findung so weit klar", hatte Löw tags zuvor bereits erklärt, aber er werde seine Dispositionen in der Kapitäns- und der Torwartfrage "erst bekanntgeben, wenn alle hier sind". Für Dienstag und Mittwoch werden, verteilt auf zwei Portionen, die Bayern-Spieler im Trainings- lager erwartet, und Löw betrachtet es als seine "Pflicht, erst mit den Spielern zu sprechen, die es betrifft".

Die alte DFB-Hausregel

Mit Miroslav Klose hat er bereits am Telefon gesprochen, was zwei Interpretationsmuster liefert, die beide sehr einleuchtend sind, sich aber leider komplett widersprechen. Der kleinere Teil des DFB-Begleittrosses mutmaßt, Löw könne Klose vorab von seiner Kapitänsrolle in Kenntnis gesetzt haben. Der weit größere Teil meint, Löw habe Klose in seiner aktuellen Schaffenskrise jedwede Unterstützung zugesagt und ihm dabei gleich erklärt, warum er lieber nicht Kapitän wird.

Das Beispiel Bierhoff lehrt ja in der Tat, dass sich ein Bundestrainer einen kriselnden Kapitän nur schwer leisten kann. Gern genommen wird zwar die Theorie, wonach man einem schwächelnden Spieler mit der Kapitänsbinde Stärke einflößt, aber nach dieser Logik müsste jener Außendienst-Mitarbeiter zum Teamleiter befördert werden, dem bei Vertragsabschlüssen am meisten der Kuli zittert.

Mit Käpt'n Klose würde Löw sich eine Debatte ins Haus holen, die er sich auch sparen kann: Zwar kann der beim DFB hochgeschätzte Klose eine alte Hausregel (die meisten Länderspiele!) für sich in Anrechnung bringen, aber es wird damit gerechnet, dass Löw einen Spieler beruft, dessen Leistung von niemandem hinterfragt wird.

Gesucht: ein Repräsentant

Verklausuliert hat Löw bereits verraten, welcher seiner Kandidaten sich auf die Übernahme des mächtigen Stückes Stoff gefasst machen darf. "Integrativ" und "kommunikativ" müsse der Kapitän sein, verfügte Löw, außerdem dürfe er "nicht nur auf seine eigene Leistung schauen", sondern "ein offenes Ohr für die Probleme anderer" haben; zudem müsse er "viele repräsentative Aufgaben" erfüllen.

Während die ersten beiden Punkte vollumfänglich auf Philipp Lahm zutreffen, passen die Kriterien drei und vier auf Philipp Lahm. Und repräsentative Aufgaben? Die erfüllt natürlich keiner besser als Philipp Lahm.

Lahm rechnet bereits mit der Beförderung, ebenso wie Manuel Neuer, um den sich Torwarttrainer Andreas Köpke in Südtirol auffällig bemüht. Vor dessen Ernennung in den Stand der Nummer eins wird Löw noch die Anreise von Bayern-Torwart Jörg Butt abwarten, aber dann will er sich zügig erklären. Neuer soll die beiden Spiele gegen Ungarn (29.5.) und Bosnien (3.6.) schon als offizielle Nummer eins bestreiten.

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