Neymar Jr.? Fein, Danke! Teilte jedenfalls die Propaganda-Abteilung des brasilianischen Verbandes CBF mit, die nach der Abreise der Seleção aus dem Basislager in Sotschi ein Interview mit dem 222-Millionen-Euro-Stürmer von Paris Saint-Germain verbreitete, das die Heimat beruhigen sollte: "Ich habe gut trainiert, ich habe mich wohl gefühlt, und der (rechte) Fuß ist auch ruhig", sagte Neymar vor dem Freitagsspiel gegen Costa Rica, das für Brasilien nach dem 1:1 gegen die Schweiz zum Auftakt eine größere Bedeutung erlangt hat als man vorab vermutet hatte. "Wir hoffen, sehr viel besser zu spielen als bei unserem Debüt", fügte Brasiliens "Nummer 10" hinzu.
Das deckte sich weitgehend mit der Analyse der Frontberichterstatter der Brasilianer vom Spiel gegen die Schweiz. Einerseits waren sie von den brillanten Anfangsminuten geblendet, andererseits entdeckten sie auch eine Reihe von verbesserungswürdigen Punkten im Spiel der Seleção. Gleichwohl: "Was dieses Team jetzt nicht braucht, ist eine Revolution", urteilte O Globo nach dem Remis von Rostow am Don. Ironischerweise spielt Brasiliens Auswahl an diesem Freitag genau in der Stadt, die für das Gegenteil steht: St. Petersburg war 1917 Schauplatz des Sturms aufs Winterpalais und damit Ausgangspunkt der Oktoberrevolution, die basisdemokratische Räte als Verwaltungsorgane installierte.
Eine kleine Konzession an jene Zeit leistet sich die Seleção. Wie einst die Sowjets ist sie nicht hierarchisch strukturiert: Die Last der Verantwortung des Kapitänsamts wird auf alle Schultern verteilt. Am Sonntag war Marcelo Spielführer, am Freitag wird es Thiago Silva sein, der nach der WM 2014, bei der Brasilien daheim unter anderem 1:7 gegen Deutschland verlor, vernichtende Kritik ertragen musste. "Wenn wir auf alle verzichtet hätten, die 2014 kritisiert wurden, hätten wir jetzt verbrannte Erde", sagte Trainer Tite am Donnerstag. Thiago Silva hatte das Kapitänsamt nach der WM an Neymar verloren.
"Wir werden ihm sein Wesen nicht nehmen", sagt Trainer Tite
An Neymar, oder genauer: an seinem Individualismus hatten sich nach dem Spiel gegen die Schweiz viele Debatten entzündet: "Wir werden ihm sein Wesen nicht nehmen", sagte Tite in Anspielung auf die selbstverliebt anmutenden Auftritte Neymars. Gerüchte über ein diesbezügliches Krisengespräch mit Neymar wies er als "Lüge" zurück. "Er ist ein Genie", sagte Tite. Aber Brasilien leidet an einem Phänomen, das auch mit Neymars Hang zu Soli zusammenhängt: Das Spiel der Seleção ist enorm linkslastig.
Sagenhafte 82 Prozent aller Angriffe gegen die Schweiz liefen über diese Seite, auf der sich Marcelo, der Torschütze Philippe Coutinho und Neymar tummelten. Auf der anderen Seite sind Danilo, Willian und Gabriel Jesus zu finden. Wobei sich die Blicke besonders auf Rechtsverteidiger Danilo richten, der einen Mann nicht vergessen machen kann: den verletzungsbedingt abwesenden Daniel Alves. Und das, obwohl Danilo nicht mal an seine Zeit bei Real Madrid anknüpft, wo der heutige Manchester-City-Profi zwischen 2015 und 2017 eine totale Enttäuschung war.
Viel mehr bekümmert die Brasilianer ein anderes, defensives Problem: der Mangel an Lufthoheit. In zuletzt 22 Spielen hat Brasilien gerade mal sechs Gegentore bekommen, im Schnitt nur 0,23 Tore pro Partie. Doch fünf Tore fielen nach hohen Hereingaben, vier davon nach Standardsituationen, bei denen Brasilien die Grenzen seiner Raumdeckung aufgezeigt bekam. Nationaltrainer Tite wollte das Tor des Schweizers Steven Zuber (TSG Hoffenheim) zwar nicht in den Katalog der Abwehrfehler aufgenommen wissen, weil dem Treffer ein Schubser und damit ein Foul an Innenverteidiger Miranda vorangegangen war, das nicht geahndet wurde (der diesbezügliche Protest der Brasilianer wurde vom Weltverband Fifa übrigens abgeschmettert). Alarmiert ist Tite dennoch. Denn etwa die Hälfte aller bisherigen WM-Tore in Russland fielen nach Standardsituationen.
Neymar hat angeblich eine Produktlinie seines Ausstatters stoppen lassen
Dessen ungeachtet lag bei den letzten Übungseinheiten der Fokus auf den Angriffssituationen. Aus dem Trainerstab verlautete, man habe vor allem Spielformen trainiert, die das Team auf tief stehende Abwehrreihen vorbereitet.
Gerade gegen einen defensiven Gegner wie Costa Rica dürfte die Rolle Neymars entscheidend werden; seine Fantasie wird gebraucht. Da trifft es sich, dass er sich voll auf die WM konzentrieren will. Laut El País hat er eine seit Februar in Planung befindliche Produktlinie seines Ausstatters "Nike" stoppen lassen, die bei einem Wechsel von PSG zu Real Madrid auf den Markt geworfen werden sollte. Vorerst, wie es heißt - nach der WM wird wohl neu verhandelt. Denn das Geld ist der Honig der Menschheit, schrieb Dostojewski in "Schuld und Sühne", das zu großen Teilen in dem Gebäude spielt, das den Brasilianern in St. Petersburg als Teamhotel dient.
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