Fußball-WM:Argentinien hat Angst wie noch nie

Fußball-WM: Lionel Messis in einem Gespräch mit Folgen. Dachte man zumindest.

Lionel Messis in einem Gespräch mit Folgen. Dachte man zumindest.

(Foto: Juan Mabromata/AFP)

Von Javier Cáceres

Am Tag danach erwachte Argentinien aus einem unruhigen Traum, und die Realität war schlimmer als das, was Kafka je erdacht hatte. Angst hatte sich am Río de la Plata aufgetürmt, ein Gefühl von Verlassenheit, Trübsinn, Resignation. "Wir sind Waisen", konstatierte die Zeitung Clarín, und in der Tat: Die Nacht zum Mittwoch hatte belegt, dass das Leben ohne Lionel Messi, den Kapitän der argentinischen Nationalelf, ungleich schwerer ist als mit ihm. Nur wenige Stunden, nachdem der Fußball-Weltverband Fifa den 29-Jährigen mit sofortiger Wirkung für insgesamt vier (und damit nahezu alle verbleibenden) Qualifikationsspiele für die Weltmeisterschaft in Russland gesperrt hatte, verlor Argentinien in Bolivien mit 0:2.

Ohne den weltbesten Fußballer, der wegen der Beleidigung des Linienrichters aus dem vorangegangenen Spiel gegen Chile bestraft wurde, rutschte Argentinien auf den fünften Tabellenplatz der Südamerikagruppe ab, der immerhin noch die Option einer Playoff-Runde gegen einen Vertreter Ozeaniens verheißt.

Argentinien blickt, anders gesprochen, einem nahezu beispiellosen Horrorszenario entgegen: Denn der zweimalige Weltmeister muss fürchten, erstmals seit 1970 die sportliche Qualifikation für eine WM-Endrunde zu verpassen. Und das als amtierender WM-Zweiter.

Die Angst ist begründet

Wie begründet die Angst ist, führte das Spiel in La Paz brutal vor Augen. Niemand am Río de La Plata war am Mittwoch gewillt, ernsthaft die mildernden Umstände ins Feld zu führen, die bei Reisen nach La Paz gelten. Auf 3600 Metern Höhe sind ja schon andere gescheitert, 2009 verlor Argentinien sogar 1:6 - mit Messi auf dem Feld und dem Weltmeister von 1986, Diego Maradona, auf der Trainerbank. Argentinien spielte gegen Bolivien atemberaubend schlecht, beziehungsweise: nur in Nuancen besser als in der Vorwoche gegen Chile. Obwohl sie mit europäischen Top-Legionären à la Di María, Banega oder Agüero gegen No-Names wie Boliviens Torschützen Juan Carlos Acre (31.) oder Werder Bremens früheren Stürmer Marcelo Martins Moreno (52.) angetreten waren.

"Bolivien hat verdient gewonnen", gestand Nationalcoach Edgardo Bauza in einer zehnminütigen Pressekonferenz, in der er gleich fünf Mal gefragt wurde, ob er mit einer Absetzung rechne oder von selbst gehen wolle. Das Urteil in Argentinien gegen ihn ist einhellig: Die Medien jonglieren schon Trainernamen wie Jorge Sampaoli (FC Sevilla), Marcelo Gallardo (River Plate) oder Diego Simeone (Atlético Madrid). Der nächste Spieltag in Südamerika steht in 100 Tagen an, es wäre also auch in dieser Hinsicht Zeit für einen neuen Mann.

WM-Qualifikation Südamerika

1. Brasilien 14 Spiele, 33 Punkte - 2. Kolumbien 14, 24 - 3. Uruguay 14, 23 - 4. Chile 14, 23 - 5. Argentinien 14, 22 - 6. Ecuador 14, 20 - 7. Peru 14,18 - 8. Paraguay 14,18 - 9. Bolivien 14,10 - 10. Venezuela 14, 6

Modus: Die ersten Vier sind für die WM 2018 in Russland qualifiziert; der Gruppenfünfte muss in Playoff-Spiele.

"Mich verbiegt nichts und niemand", sagte Bauza trotzig - und ging dazu über, die längst grassierenden Verschwörungstheorien zu nähren. "Irgendjemand hat etwas dafür getan, dass dies geschehen konnte", raunte er in Anspielung auf Messis Sperre. Das entbehrte nicht einer gewissen Komik, denn nach dem 1:0 gegen Chile herrschte auch in Argentinien noch die Idee vor, dass die Fifa ein Interesse habe, Argentinien und Messi bei der WM 2018 dabei zu haben. Chile verlor nach einem schmeichelhaften, von Messi verwandelten Elfmeter - und weil Chile umstrittenerweise ein Tor aberkannt wurde.

Messi im Schnellverfahren bestraft

WM-Qualifikation: Argentinien - Chile

Messi vor einer Woche beim Spiel gegen Chile.

(Foto: dpa)

Daran, dass es einen Anlass gibt, Messi zu bestrafen, gibt es keinen Zweifel. TV-Aufnahmen belegen, dass Messi den Linienrichter wutentbrannt aufforderte, sich in den Schoss seiner Mutter zurückzuscheren - in Begrifflichkeiten, die vulgär, auf südamerikanischen Fußballplätzen aber handelsüblich sind. Vier Spiele Sperre findet deshalb nicht nur der 78er-Weltmeister-Trainer César Luis Menotti "barbarisch"; ob Menotti mit dem charmanten Vorschlag, Messi "zu Arbeit" zu verurteilen, weit kommt, darf bezweifelt werden. Aber das ist einerlei: Die Debatten kreisten auch eher darum, wie es zur Strafe kam.

Denn: Messis Suada war nicht im Spielbericht zu finden, die Fifa wurde von Amts wegen tätig - und bestrafte Messi im Schnellverfahren. Man habe keine Zeit gehabt, am grünen Tisch Gegenargumente vorzubringen oder auf dem Rasen eine Alternative zu Messi zu testen, klagte Bauza. Warum nur?, fragen sich nun also die Argentinier: Wurde Messi abgestraft, weil er zu Beginn des Jahres die Fifa-Gala geschwänzt hatte? Wurde die Fifa auf Initiative der Chilenen tätig, die im Kampf um die WM-Tickets in direkter Konkurrenz zu Argentinien stehen? Und: Wozu ist Maradona eigentlich noch nütze?

War Maradona untätig?

Maradona ist neuerdings Berater von Fifa-Chef Gianni Infantino. Dem Weltmeister von 1986 wird vorgehalten, mindestens untätig gewesen zu sein. "Ich hatte (mit der Sperre) nichts zu tun!", rief Maradona empört in sein Handy und schickte die Audiodatei ans Radio, alle Welt habe gesehen, dass Messi den Linienrichter beschimpft habe. Am Mittwoch hatten sich viele Argentinier wieder auf die brasilianischen Nachbarn eingeschossen, die in Südamerikas Verband den Vorsitzenden des Schiedsrichterausschusses stellen. Der unausgesprochene Verdacht: Die vorzeitig qualifizierten Brasilianer wollen einen möglichen WM-Titelgegner vorzeitig ausschalten.

Andere in Argentinien trauern einem Toten hinterher: "Mit Julio wäre das nicht passiert", heißt es in Anspielung auf Julio Grondona, den Paten des argentinischen Fußballs. Der Tod des früheren Fifa-Vizepräsidenten und Strippenziehers (2014) ließ ein Machtvakuum entstehen, das Argentiniens Fußball wie ein Trümmerfeld wirken lässt, aus dem Schwaden der Korruption, Ränke und Unfähigkeit dampfen. Argentiniens Nationalelf wirkt da bloß wie ein Spiegel. Nun muss sie vorerst ohne Messi auskommen. Aber Argentinien hofft immer noch, dass die Sperre nach dem Einspruch reduziert wird.

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