Fußball: Video-Beweis:Ein Spiel voller Fehler

Tor oder nicht Tor, das ist hier die Frage: Was Fußball-Schiedsrichter brauchen und was nicht - damit nicht immer nur ihre Mängel den Gesprächsstoff liefern.

Herbert Fandel

Was ist eigentlich die Faszination des Fußballs, dieses einfachen Spiels, das seit mehr als 100 Jahren nach mehr oder weniger denselben Regeln gespielt wird? Ist es die Spielstärke der Teams, deren taktische Strategie? Sind es die technischen Fertigkeiten der Stars? Oder ist es das Unberechenbare, das Unvorhersehbare, das Unvollkommene des Spiels an sich, das die Menschen in die Stadien und vor den Fernseher lockt? Und bei genauerem Hinschauen entdeckt man, dass es oft die Fehler sind, die das Ereignis zu einem Erlebnis werden lassen. Planbares und Programmiertes gehören nicht zum Fußball, der Moment fasziniert, und die Wirkung dieses Momentes muss möglichst emotional und nachhaltig sein.

Germany's goalkeeper Manuel Neuer watches as the ball crosses the line during the 2010 World Cup second round soccer match against England at Free State stadium in Bloemfontein

Torwart Manuel Neuer kann nur noch gucken: Der Ball ist drin, aber merkt das auch der Schiedsrichter?  

(Foto: Reuters)

Als der englische Torwart Robert Green im Vorrundenspiel der Weltmeisterschaft gegen die USA den leichten Schuss eines gegnerischen Stürmers ins Tor rutschen ließ, wurde das bis dahin normale Spiel plötzlich zu einem sportlichen Drama. Es endete unentschieden, und die Historie der englischen Torhüter und deren Fehlgriffe standen tagelang im Mittelpunkt der Berichterstattung. Ganz England war entsetzt und trauerte, während andere große Fußballnationen heimlich lachten und sich hinter vorgehaltener Hand freuten. Dieser vermeidbare Fehler des Nationalkeepers entfachte Emotionen und lieferte Gesprächsstoff.

Wollen wir Fußballfans diese Fehler weiterhin sehen, oder sollten wir versuchen, diese Fehlerquelle abzuschaffen, um sicherzugehen, dass solche einfachen Schüsse auf das Tor die Torlinie nicht mehr passieren können?

Vor vielen Jahren arbeitete Christoph Daum als Trainer beim VfB Stuttgart. 1992 wurde der VfB mit ihm Deutscher Meister und spielte daraufhin in der ersten Runde des Europapokals gegen Leeds United. Beim Rückspiel in Leeds unterlief Daum ein Fehler, indem er während des Spiels einen vierten Ausländer auf das Feld schickte. Dies war damals nicht erlaubt - und so wurde das Spiel mit 3:0 für Leeds gewertet (tatsächlich ging es 4:1 für Leeds aus, nach einem 3:0-Sieg für Stuttgart im Hinspiel - womit der VfB wegen des erzielten Auswärtstores eigentlich eine Runde weiter gewesen wäre). So kam es zu einem Entscheidungsspiel im Camp-Nou-Stadion von Barcelona. Durch eine Niederlage vor fast leeren Rängen schied der VfB aus. Ein Riesenfehler von Daum, der auf einer menschlichen Unzulänglichkeit unter ungeheurem Druck basierte.

Möchten wir als Fußballfans, dass solche Dinge von einer Maschine geregelt werden, sodass wir eine hundertprozentige Sicherheit bekommen, dass sich so etwas nie wiederholt?

Mit offener Sohle gegen die Brust

Im Finale der Fußball-WM zwischen Spanien und den Niederlanden trat der holländische Nationalspieler Nigel de Jong seinem Gegenspieler mit offener Sohle gegen die Brust. Ein klarer Feldverweis hätte die Folge sein müssen - und eigentlich hätte auch noch ein zweiter Spieler der Holländer wenig später Rot sehen müssen. Schiedsrichter Howard Webb verkannte die tätlichen Attacken und beließ es bei einer gelben Karte, im zweiten Fall gar nur bei einer Ermahnung.

Ich erinnere mich noch sehr gut an eines der Ruhrpottderbys zwischen Dortmund und Schalke im Jahr 2004 unter meiner Leitung. Es ging wie fast immer hoch her, und alle Beteiligten auf dem Platz - einschließlich der Unparteiischen - standen mächtig unter Dampf. Eine Viertelstunde vor Schluss stand es noch 0:0, als ein Schalker Verteidiger im eigenen Strafraum plötzlich den Ball ohne Not mit der Hand spielte. Das Stadion tobte. Dann scheiterte der Dortmunder Elfmeterschütze am Schalker Torhüter. Und kurz vor Schluss schoss Schalke gar noch das Tor zum Auswärtssieg.

Fehler über Fehler in diesem Spiel, die letztlich zu einem denkwürdigen Ruhrderby beitrugen und dieses Spiel in meiner Erinnerung festhalten.

Fehler über Fehler - und die Masse ist dennoch begeistert

Der Fußball, der so bemerkenswert durchsetzt ist mit Fehlleistungen aller Akteure auf und um das Spielfeld, begeistert seit Jahrzehnten die Massen. Legt das nicht den Schluss nahe, dass es gerade die Fehler sind, die zu Toren führen und damit das Unvorhersehbare im Fußball sind? Bemerkenswert ist auch, dass nicht alle Fehler auf dem Fußballfeld in der Öffentlichkeit die gleiche Bedeutung haben. Während der verschossene Elfmeter alsbald vergessen ist, wird dem Schiedsrichter das übersehene Handspiel im Strafraum noch einige Zeit vorgehalten.

Schiedsrichter: Mehr Macht für vierten Offiziellen

Schiedsrichter Heribert Fandel, Leiter der DFB-Schiedsrichterkommission.

(Foto: dpa)

Der Fußball hat sich in den vergangenen Jahren enorm entwickelt, und ich habe durchaus Verständnis für die Meinung einiger Trainer und Spieler, tatsächliche und scheinbare Fehlentscheidungen der Schiedsrichter technisch zu überwachen. Zumindest kann ich ihre Beweggründe verstehen. Nur messen auch sie hier mit unterschiedlichem Maß.

Die dritte Dimension fehlt

So ist und bleibt es weiterhin unmöglich, Strafraumszenen einwandfrei und fehlerlos mittels eines TV-Beweises zu beurteilen. Es fehlt einfach die dritte Dimension, die Tiefe des Bildes. Viele Unwägbarkeiten blieben erhalten: Ein Zweikampf kann unterschiedlich bewertet werden, wenn die Kameraposition keine eindeutige Betrachtung zulässt. Unterschiedliche Ansichten am Monitor aber wären der Ruin dieses Sports, denn 95Prozent aller Schiedsrichterentscheidungen liegen im Bereich eines gewissen Ermessens. Sie gehören deshalb in die Hand eines Unparteiischen, der all seine Entscheidungen in eine Entscheidungskette stellt und damit eine Balance im Spiel herzustellen versucht.

Anders sieht es bei einem Chip im Ball aus, vorausgesetzt, er funktioniert fehlerlos. Im WM-Spiel Deutschland gegen England passierte dem uruguayischen Assistenten im Gespann von Jorge Larrionda der Fehler seines Lebens. Nach einem Schuss von Frank Lampard knallte der Ball an die Latte und sprang von dort deutlich hinter der Torlinie auf. Der Kommentator benötigte schon die Zeitlupe, um zu erkennen, dass der Ball im Tor war (auch wenn er dies nachher zu kaschieren versuchte). Eine einwandfrei funktionierende technische Hilfe wie der Chip im Ball hätte dem Schiedsrichter diesen Treffer sofort angezeigt. Ohne Zeitverlust und aufkommende Unruhe hätte er diesen Treffer gegeben. Ich bin generell für diese Hilfe, und mit mir unsere Bundesliga-Schiedsrichter: Das Spiel bliebe unverändert, aber eine unnötige Fehlerquelle wäre zuverlässig beseitigt.

Herbert Fandel, langjähriger Fifa-Schiedsrichter, ist Chef der DFB-Schiedsrichterkommission. Im Hauptberuf leitet Fandel, 46, die Kreismusikschule Bitburg-Prüm.

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