Fußball:Strenger Schnauzbart

Stanislaw Tschertschessow

Ist er der Mann fürs große Projekt? Die Meinungen über Stanislaw Tschertschessow sind zwiegespalten.

(Foto: Maxim Shipenkov/dpa)

Der frühere Bundesliga-Profi Stanislaw Tschertschessow soll Russlands darbende Nationalelf bis zur WM im eigenen Land neu aufbauen.

Von Johannes Aumüller

Der Schnauzer ist noch dran, nicht mehr ganz so dunkel wie früher, sondern ergraut, dafür stärker gestutzt. Mitte der Neunzigerjahre hat Fußball-Deutschland diesen Stanislaw Salamowitsch Tschertschessow kennengelernt, als Stammtorwart von Dynamo Dresden - und als Kontrahent von Werder Bremens Mirko Votava im Wettstreit um den schönsten Oberlippenbart der Liga. Inzwischen ist Tschertschessow 52 Jahre alt und mit einer ähnlich anspruchsvollen Herausforderung betraut: Er soll Russlands Nationalelf bis zur WM 2018 im eigenen Land wieder in einen tauglichen Zustand versetzen.

Mit den Duellen in der Türkei (Mittwoch) und gegen Ghana (Dienstag) beginnt seine schwierige Mission. Bei den drei jüngsten Großturnieren schied die Sbornaja jeweils in der Vorrunde aus - zuletzt bei der EM in Frankreich als chronisch überalterte und spielerisch wohl schlechteste Elf des 24er-Feldes. Trainer Leonid Sluzkij ging, Tschertschessow kam. Doch die Erwartungen fürs Heim-Turnier sind groß. Ein erfolgreicher Auftritt der Nationalelf ist elementarer Bestandteil für das vom Kreml erhoffte Politpropaganda-Fest.

Tschertschessows Amt ist daher auch ein politisches. Als er am Montag zur ersten Einheit bat, saß im Teambus neben Nationalspielern und Trainerstab auch Witalij Mutko, zugleich Sportminister wie Präsident des Fußballverbands. Der gab gleich eine interessante Marschroute vor. Nicht-Pflichtspiele firmieren in Russland oft unter dem schönen Begriff "towarischtscheskie igry". Igry heißt Spiele, und towarischtscheskie kommt vom alten Sowjet-Wort Towarischtsch, Genosse. Aber das klingt Mutko und den Seinen offenkundig zu gemütlich, ab sofort ist als Terminus nur noch "kontrolnye igry" erlaubt. Gemäß des altes Lenin-Mottos: Freundschaftsspiele sind gut, Kontrollspiele sind besser.

Ob Tschertschessow, gebürtig aus Nordossetien im Kaukasus, der geeignete Mann fürs große Projekt ist? In Russland sind die Meinungen zwiegespalten, aber andere Optionen gab es kaum. Eine hochbezahlte ausländische Fachkraft wollte ob der schlechten Erfahrungen mit Dick Advocaat (2010 - 2012) und Fabio Capello (2012 - 2015) niemand mehr, der geschätzte Sluzki (205/16) verdarb sich eine Weiterbeschäftigung durchs schlechte EM-Abschneiden. So blieben nur Kurban Berdyjew, der zuletzt den FK Rostow in die Champions League führte, wo dieser nun auf den FC Bayern trifft - und eben Tschertschessow.

Als programmatischer Stratege ist dieser bisher nicht aufgefallen auf seinen acht Stationen, die er in zwölf Trainer-Jahren erlebte und die von Österreich (FC Kufstein, FC Tirol) über Russland (u.a. Spartak Moskau, Dynamo Moskau, Terek Grosny) bis Polen (Legia Warschau) führten. Außerdem gilt er als eigenwilliger und strenger Typ; viele erwarten, dass es zu Konflikten mit Spielern kommt. Andererseits erreichte Tschertschessow manchen Erfolg, zuletzt den polnischen Meistertitel mit Legia. Und Konflikte mit Spielern wünschen sich manche Beobachter fast. Nicht selten haben Russlands Kicker mit ihrem Verhalten landesweiten Unmut ausgelöst, zuletzt Alexander Kokorin und Pawel Mamajew, weil sie unmittelbar nach dem EM-Aus in einem schicken Nachtclub weilten, in dem viel Champagner auf den Tisch kam.

Da soll der strenge Schnauzbart nun eine andere Haltung vermitteln, aber zumindest in der ersten Reaktion gab er den gutmütigen Spielerversteher. "Champagner ist nicht die schlechteste Variante", sagte er. "Wir waren auch mal 25 Jahre alt. Alle haben im Leben falsche Dinge gemacht."

Tschertschessow weiß, wie schwer die Aufgabe wird. Das Reservoir an guten Spielern und vor allem an jungen Talenten ist begrenzt, in Gestalt des eingebürgerten Roman Neustädter (bisher Schalke, nun Fenerbahce) steht nur ein Legionär im Kader. Tschertschessow sieht sich nichts als Revolutionär, macht sich aber ans große Testen. Aus dem EM-Team sind fürs Erste nur acht Spieler dabei, die Hälfte der 23 für die Testkicks nominierten Kicker bestritt drei oder weniger Länderspiele. Von "Perestroika", also Umbau, schrieb die Rossijskaja Gaseta, wie die Polit-Reformen der späten Achtziger unter Michail Gorbatschow. Aber das klingt hoffnungsfroher als es ist. Die Debütanten wie Soslan Dschanajew oder Fjodor Kudraschow sind alle Endzwanziger, und dass ihre Länderspiel-Bilanz bei null steht, hat nur wenig mit schlechten Augen von Tschertschessows Vorgängern zu tun.

Vielleicht finden Tschertschessow, Mutko & Co. nun Mittel und Wege, mit denen die Elf vorankommt. Bis auf Weiteres darf als sinnbildlich aber der Umgang mit dem alten Kämpen Sergej Ignaschewitsch dienen. Der zweikampfstarke, aber viel zu langsame Innenverteidiger deutete mit nun 37 Jahren seinen Rückzug an. Aber so richtig akzeptieren will Tschertschessow den noch nicht. Er habe bei der WM 2002 auch mit knapp 40 im Kader gestanden, teilte er mit.

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