Die spannendste Aktion des Spiels kam von Patrick Helmes. Um 21.16 Uhr stand der Leverkusener Stürmer plötzlich zum Einwechseln bereit an der Seitenlinie, und das Stadion hielt den Atem am: Was würde Joachim Löw jetzt tun? Würde sich der Bundestrainer trauen, den armen Mario Gomez auszuwechseln?
Oder würde er lieber den Volkshelden Lukas Podolski abberufen? Die Spannung stieg, der lästige Ball wollte einfach nicht ins Seitenaus, und als er endlich die Seitenlinie überquerte, zückte der Assistent sein Täfelchen, und es leuchteten auf: die "9" und die "3". Patrick Helmes kam. Marcell Jansen ging.
Jene 64. Minute war der Moment, in dem das WM-Qualifikationsspiel gegen Liechtenstein endgültig endete. Jeder im Stadion spürte, dass es überflüssiger Interpretationsaufwand wäre, diese Auswechslung auf ihr strategisches Potential hin zu untersuchen.
Es ging hier nur noch darum, das Schlimmste zu verhindern: Das Publikum sollte nicht die Zeit finden, Mario Gomez auf dem langen Weg vom Sturmzentrum bis zur Auswechselbank mit Pfiffen zu begleiten. Und vielleicht, vielleicht würde in den verbleibenden 26 Minuten ja doch noch irgendein Ball vom Himmel und Mario Gomez direkt vor die Füße plumpsen. Und vielleicht, vielleicht würde Gomez diesen Ball dann treffen - und hoffentlich, hoffentlich wäre dann alles vorbei.
Die EM ist nicht vergessen
Spätestens ab der 64. Minute spielte nicht mehr Deutschland gegen Liechtenstein, sondern Mario Gomez gegen sich selbst. In der 78. Minute kam dann übrigens wirklich ein Ball vom Himmel geplumpst, aber das war schon die Zeit, als man froh sein durfte, dass er Gomez nicht mehr vor die Füße fiel, weil er den Ball vor lauter Verunsicherung womöglich zurück in den Himmel geschossen hätte.
Wer wollte, hatte diese Szene aber trotzdem wiedererkannt: Als Podolskis abgefälschter Ball hoch über Gomez' Kopf stand und schließlich unberührt ins Toraus flog, wirkte das wie ein hundsgemeine Anspielung auf jene scheußliche Szene, mit der vor einem Dreivierteljahr alles begann - im EM-Vorrundenspiel gegen Österreich, als Gomez frei vor dem Tor den Ball in den Himmel jagte und sich beim Nachsetzversuch beinah das Genick verrenkte.
Stürmer können so etwas nicht vergessen, und es tröstet sie auch nicht, wenn sie eigentlich nichts dafür können. Der scheußliche Ball war damals auf einem Grashügel aufgetitscht, den ein österreichischer Greenkeeper vermutlich heimtückisch präpariert hatte.
Mario Gomez hat in den Tagen vor dem Liechtenstein-Spiel viele Interviews geben müssen, immer wieder hat er tapfer erzählt, wie sehr der Nationalspieler in ihm bis heute unter dieser Aktion leidet, während der Bundesligaspieler in ihm offenbar ungeschoren davonkam. Auch nach dem Liechtenstein-Spiel, das am Ende fast minütlich eine tapsig vergebene Gomez-Chance im Programm hatte, war der Stürmer tapfer genug, sich den Fragen zu stellen.
Seine Antworten klangen so: "Ich weiß auch nicht, wieso" - "Es sollte nicht sein" - "Die Pfiffe tun natürlich weh" - "Ich weiß nicht, ob ich irgendwas verbrochen habe" - "Ich mache das ja nicht mit Absicht". Wer diese Sätze mit der zunehmenden Resignation auf dem Rasen und den Pfiffen des Publikums zu einem kleinen Trauersträußchen zusammenband, der musste sich schon Sorgen machen um diesen überragend veranlagten Stürmer - beziehungsweise um einen der beiden überragend veranlagten Stürmer, die derzeit unter dem Namen "Mario Gomez" firmieren.
Seit einem Jahr torlos
Es ist keine neue Erkenntnis, dass viele Stürmer gespaltene Seelen mit sich führen, aber so einen verzwickten Fall hat Deutschland noch nie erlebt. Es gab Stürmer wie Dieter Müller oder Ulf Kirsten, die im Vereinstrikot gefürchtet waren, sich ihrerseits aber vor dem Nationaltrikot zu fürchten schienen - aber meist gab es halbwegs einleuchtende Erklärungen für diese Doppelleben.
Sie hatten entweder überragende Konkurrenten, oder sie waren - ganz banal - zwar gut genug für die obere, nicht aber für die oberste Ebene. Bei Gomez versagen diese Erklärungsmuster: Keiner zweifelt an der hohen Befähigung dieses Angreifers, dessen Spiel viel mehr Facetten hat als das von Podolski oder Helmes.
Dennoch hat sich zurzeit das eine Ich vom anderen Ich bedenklich abgespalten: Das eine Ich bringt es beim VfB Stuttgart wettbewerbsübergreifend auf 23 Saisontore und steht auf den Einkaufszetteln von Bayern München, Manchester United und dem FC Barcelona ganz weit oben. Das andere Ich ist beim DFB seit einem Jahr torlos und hat eine Chancenverwertung, die es nicht mal für die Scoutingabteilung des FC Vaduz interessant macht.
In Stuttgart ein Held
Beim DFB und beim VfB registrieren sie mit Sorge, dass die Nation offenbar gerade dabei ist, sich auf diesen Spieler einzuschießen. "Ich finde es unglücklich, dass ein Nationalspieler von den Fans ausgepfiffen anstatt unterstützt wird", sagt Löw.
In Stuttgart ist Gomez ein Held wie Podolski in Köln, aber außerhalb der Stadtgrenzen verdichten sich das Interesse des FC Bayern, die 35-Millionen-Ausstiegsklausel und die Torlosigkeit beim DFB zu einem Imageproblem, das diesem aufrechten jungen Mann zu schaffen macht. "So getroffen wie nach diesem Spiel hab ich Mario selten erlebt", sagt der langjährige Gomez-Berater Uli Ferber. Er ist gerade auf der Suche nach einem neuen Medienberater für Gomez, und er ahnt, dass der neue Mann gleich eine Menge Arbeit haben wird.
Beim DFB hat sich aber längst die Erkenntnis durchgesetzt, dass sich im Fall Gomez die Geduld lohnen wird. "Durchaus denkbar" sei es, dass Gomez auch in Wales beginne, sagte Joachim Löw, der mit dieser Art der Spieltherapie gute Erfahrungen gemacht hat. Beim Hinspiel in Liechtenstein lieferte Miroslav Klose eine seiner erschütterndsten Vorstellungen ab. Vier Tage später traf er in Finnland dreimal.