Fußball in England:Leicester City erwacht aus dem Märchentraum

Sunderland v Leicester City - Premier League - Stadium of Light

Die Mannschaft von Leicester City war ganz oben - jetzt steht sie ziemlich weit unten.

(Foto: AP)

Die Fabelgeschichte geht zu Ende: Englands Überraschungs-Meister steckt wieder im Tabellenkeller fest - alle Hoffnungen gelten nun der Champions League.

Von Raphael Honigstein, London

Sechs Monate nach dem "Fußballwunder" Leicester City staunen Englands Zeitungen schon wieder über den Underdog und sein rasantes Überfallkommando-Spiel, auch der locker-gemütliche ausländische Trainer und sein putziger Akzent haben es den Briten sehr angetan. Über die vielen schönen Lobpreisungen kann sich Leicester, der Überraschungsmeister von 2015/16, trotzdem nicht richtig freuen, denn das Team von Coach Claudio Ranieri kommt in den betreffenden Geschichten derzeit nur als Vergleichsgröße vor. Die Storys handeln nämlich davon, ob diese east-german nobodies von RB Leipzig mit ihrem österreichischen Trainer Hasenhüttl wirklich "the new Leicester" werden und die Bundesliga gewinnen können. Mit dieser Frage beschäftigen sich Medien auf der Insel derzeit täglich.

Das Original aus den Midlands wird mittlerweile mit einem ganz anderen Fall verglichen: Manchester City gelang vor 81 Jahren das historisch einmalige, unrühmliche Kunststück, als Meister in der folgenden Saison abzusteigen. Ähnliches könnte auch den Foxes widerfahren, wenn es in der Liga so enttäuschend wie bisher weitergeht.

Nach 14 überwiegend schwachen Partien stehen für die Helden des Frühjahrs nur 13 Punkte zu Buche, als Tabellen-Sechzehnter liegt Leicester knapp vor den Abstiegsplätzen. Das 1:2 beim bisherigen Tabellenschlusslicht Sunderland war am vergangenen Samstag der vorläufige Tiefpunkt - und bereits die siebte Liganiederlage der Saison; im Meisterjahr verlor Leicester von 38 Spielen ganze drei.

"Ich mache mir keine Sorgen, aber ich bin Pragmatiker", sagte Ranieri kürzlich "wir sind dabei, wir wissen das." Ranieri meinte: im Abstiegskampf.

Der Humanist Ranieri ist nun als Krisenmanager gefragt

Leicester, das vor dem Titelrausch im Spieljahr 2014/15 nur knapp dem Absturz in die zweite Liga entgangen war, sei "aus der herzerquickenden Oase der vergangenen Saison in die vertraute Wüste der zerfledderten Nerven und gekauten Fingernägel" zurückgekehrt, dichtete die Lokalzeitung Leicester Mercury. Gefühlskalte Analysten würden von einer Regression zur Mitte sprechen. Die Reise musste nach dem sagenhaften, weit überdurchschnittlichen Ergebnis der Vorsaison (81 Punkte) fast zwangsläufig nach unten gehen.

Dass der Meister in der Liga jedoch dermaßen stark abbaut, war nicht zu erwarten. In der Champions League hielt sich Leicester ja schadlos und zog vorzeitig ins Achtelfinale ein. Doch dieser Flutlichtglanz kann die bangen Wintertage im King-Power-Stadion auch nicht nachhaltig erhellen.

Das alte Problem: Doppelbelastung

Auf der Suche nach Gründen für den Leistungsunterschied zwischen Liga und Europacup tappt Ranieri im Dunkeln: "Wir finden in der Champions League Lösungen, in der Premier League nicht", sagt der 65-Jährige lapidar. Die mentale und physische Doppelbelastung spiele eine Rolle, vermutet der Römer: "Ein Klub wie Leicester, der zum ersten Mal europäisch spielt, büßt in der Liga Qualität ein."

Der Weggang von Mittelfeld-Zerstörer N'Golo Kanté (für 25 Millionen Euro zum FC Chelsea) hat der Mannschaft weh getan. Der Franzose hinterließ eine neuralgische Sicherheitslücke in Ranieris Konter-Konstrukt, die Defensivabteilung um den Deutschen Robert Huth wirkt seltsam unkonzentriert. In Vertretung des verletzten Stammkeepers Kasper Schmeichel musste der im Sommer von Hannover 96 verpflichtete deutsche Nationaltorwart Ron-Robert Zieler zuletzt in sieben Spielen zwölf Mal hinter sich greifen.

Vorne hakt es ebenfalls: Jamie Vardy und Riyad Mahrez, das famose Sturm-Duo der Vorsaison (41 Tore), genießen nicht länger Anonymität, die beiden Spieler des Jahres in England bringen wegen der stärkeren Bewachung durch die Gegner aktuell wenig zustande. Nationalstürmer Vardy (zwei Tore) hat in der Liga seit September keinen Ball ins Netz geschossen. Mahrez, algerischer Flügelstürmer (drei Tore), scheinen Speed und Witz abhanden gekommen zu sein, seit Saisonbeginn fanden nur zehn seiner Pässe Vardy.

Ob bei den Angreifern auch der Zweifel mitkickt, den rechtzeitigen Absprung verpasst zu haben? Beide hatten im August lukrative Wechselangebote ausgeschlagen (unter anderem vom FC Arsenal). Ihre begeisternden Aufritte aus dem Frühjahr muten mittlerweile wie Großtaten aus einem anderen Jahrhundert an. "Wir waren Meister, wir sind es nicht mehr", sagt Mahrez, 25, traurig.

Leicesters Abstiegssorgen sollen nun bald auf klassisch englische Weise gelindert werden: mit teuren Nachkäufen im Winter. Bis dahin muss sich Ranieri, der im Vorjahr als großer Humanist der Trainergilde gewürdigt wurde, als effizienter Krisenmanager beweisen. Vor Monaten lief er mit einer imaginären Glocke über den Trainingsplatz, kleinere Probleme und Nachlässigkeiten bimmelte er einfach lustig weg. Jetzt aber schrillen laut die Alarmglocken.

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