Fußball in England:Aufwachen! Chelsea!

"Alles läuft falsch": In England wird darüber gerätselt, warum der Meister und Pokalsieger FC Chelsea abrupt seine Form verliert und inzwischen sogar komplette Spiele verschläft. Hinter den Kulissen rumort es bereits gewaltig.

Raphael Honigstein

Der ehemalige Manchester-United-Spieler und Stollenschuhphilosoph Eric Cantona hatte für den gestrigen Dienstag zum revolutionären Sturm auf die Finanzinstitute aufgerufen. "Das System baut auf die Macht der Banken", predigte der Franzose, "wer es zerstören will, muss also zur Bank gehen und sein Geld abheben." Ökonomen halten das für eine gewagte These.

Fußball in England: Toreschießen leichtgemacht: Evertons Jermaine Beckford traf am vergangenen Wochenende beim 1:1 in London gegen eine schläfrige Chelsea-Abwehr.

Toreschießen leichtgemacht: Evertons Jermaine Beckford traf am vergangenen Wochenende beim 1:1 in London gegen eine schläfrige Chelsea-Abwehr.

(Foto: AP)

Was den Fußball - oder, um genauer zu sein: den Manchester-United-Rivalen FC Chelsea - betrifft, scheint Cantona jedoch die richtige Niedergangs-Formel gefunden zu haben: Seitdem der Klub-Eigentümer Roman Abramowitsch den West-Londonern immer stärker seine Millionen vorenthält, gibt es dort überhaupt keine (Reservisten-) Bank mehr, und das einst gefürchtete blaue System röchelt schwer vor sich hin.

Fünf Punkte aus den vergangenen sechs Ligaspielen haben sie nur erzielt, das ist Chelseas schlechteste Ausbeute seit einem Jahrzehnt. "Alles läuft falsch", sagt Trainer Carlo Ancelotti, ein Italiener.

Beim verstörend-schwachen 1:1 am Samstag gegen den FC Everton wurden als Ersatzspieler Gaël Kakuta, 19, Jeffrey Bruma, 19, Joshua McEachran, 17, Dean Sturridge, 21, Paulo Ferreira, 31, und Ramires, 23, geführt. Die Namen zeigen, dass von der aus feinstem Cashmere gestrickten Personaldecke des Vorjahres bis auf ein paar Flicken nichts übrig geblieben ist.

Neben dem Brasilianer Ramires kam nur der Israeli Yossi Benayoun (vom FC Liverpool, momentan aber verletzt) vor Saisonbeginn als Zugang an die Stamford Bridge, renommierte Kräfte wie Michael Ballack, Ricardo Carvalho, Deco, Joe Cole und Juliano Belletti wurden verabschiedet.

Der Russe Abramowitsch hat unter dem Eindruck der demnächst in Kraft tretenden Financial-Fairplay-Regeln des europäischen Fußballverbandes Uefa, durch die die Großklubs zu vernünftigerem Wirtschaften genötigt werden sollen, einen Spar- und Verjüngungskurs ausgerufen. Trainer Ancelotti muss beim englischen Meister und Pokalsieger nun einen künstlich beschleunigten Umbruch bewältigen. Der famose Saisonstart des FC Chelsea bewies, dass dieses Unterfangen nicht grundsätzlich unmöglich ist.

Doch die inzwischen hinter Arsenal (32 Punkte) und ManU (31) zurückgefallenen Blues (30) brauchen dafür alle Stammspieler in Bestverfassung. In den vergangenen Wochen fehlten der Ghanaer Michael Essien (Sperre) sowie die Engländer John Terry (eingezwickter Nerv) und Frank Lampard (Leiste); dazu scheint die Offensivabteilung um Didier Drogba und die Franzosen Florent Malouda und Nicolas Anelka plötzlich von einer merkwürdigen Trägheit befallen zu sein. "Unser Problem ist, dass wir unsere Leistung nicht 90 Minuten lang halten", sagt Torhüter Petr Cech, "es gibt Phasen, in denen wir überhaupt nicht da sind. So geht es schon die ganze Saison."

"Wir haben Angst"

Drogba, der beim sportlich unerheblichen Champions-League-Spiel gegen Olympique Marseille an diesem Mittwoch zu seinem ehemaligen Verein zurückkehrt, leidet offenbar unter den Spätfolgen einer Malariaerkrankung. "Seit ich bei Chelsea bin, war meine Form noch nie so schlecht", gibt der Stürmer von der Elfenbeinküste zu.

Chelsea Training and Press Conference

Traurige Protagonisten: Trainer Carlo Ancelotti (rechts) mit Stürmer Didier Drogba.

(Foto: Getty Images)

Das erklärt aber nicht, warum die physisch und mental sonst so starken Blues komplette Spiele verschlafen. "Wir müssen aufwachen", fordert Ancelotti. Der 51-Jährige findet derzeit keine Nachtruhe, die Sorge um den kompletten "Verlust unserer Fußballidee" treibt ihn um: "Wir haben Angst, fürchten uns, den Ball zu passen, und hauen ihn dann lang nach vorne."

Eine kontroverse Personalentscheidung über den Kopf des Italieners hinweg hat den Klub zusätzlich destabilisiert. Vor drei Wochen wurde völlig überraschend Assistenztrainer Ray Wilkins gefeuert - in der Halbzeitpause eines Reservespiels. Plausible Gründe nannte Chelsea für die Aktion nicht. Ein Journalist, der von Verfehlungen des 54-Jährigen berichten wollte, wurde mit der Androhung einer Klage mundtot gemacht.

Ancelotti kann auf den besonders bei den englischen Spielern beliebten Hütchenaufsteller im Grunde verzichten, sein taktischer Input war minimal und zudem oft von fragwürdiger Qualität. Dass der Klub danach, ohne Ancelotti zu fragen, den Gegner-Beobachter Michael Emenalo zu Wilkins Nachfolger bestimmte, stieß dem Coach aber sauer auf. Der smarte Nigerianer gilt im Verein als Informant des russischen Eigentümers.

Mit dem von seinem Amt zum Ende der Saison zurücktretenden dänischen Sportdirektor Frank Arnesen verliert Ancelotti zudem bald einen weiteren Verbündeten. Falls er überhaupt noch so lange da ist. Bevor Abramowitsch während der Transferperiode im Januar die Chance bekommt, der blauen Bank die dringend nötige Liquiditätsspritze zu verpassen, könnte aus Chelseas Krise nämlich ein echtes Drama werden. Die nächsten Liga-Gegner in der Premier League sind Tottenham, Manchester United und der FC Arsenal.

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